30. März 2008

Theodizee

Theodizee -
Die Rechtfertigung Gottes angesichts des Leides in der Welt

Der Begriff „Theodizee“wurde erstmals von Leibniz in seinem 1710 publizierten Buch „Über die Theodizee – Betrachtung der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und der Ursache des Bösen“ publiziert. Theodizee leitet sich ab vom Griechischen Theos (Gott) und Dikae (Gerechtigkeit).

Es existiert einen Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes und seiner Gutheit.
Wie kann Gott das zulassen ?
Unser Leben zeigt vielerlei Leiden: Naturkatastrophen, Krieg, Verbrechen, Krankheiten. Warum hat Gott eine Welt erschaffen, in der es Leid und Schmerz gibt? Hätte Gott nicht eine bessere erschaffen können?
Das Theodizee-Problem gründet sich in dem erfahrenen Widerspruch zwischen dem Glauben an Gott und dem Sinn-Verlust, der mit dem Leiden verbunden ist. Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott die Übel und das Böse in der Welt zulassen, warum müssen wir leiden?
Das Problem entsteht nicht nur denkerisch, sondern direkt für den Menschen, der an Gott glaubt und von einem großen Leid, Unrecht oder sogar von einem Verbrechen heimgesucht wird. „Wie kann Gott das zulassen?“ ist die Frage. Gott will doch nur das Gute, das Beste? Ist das nun das Beste?
Wie aber kann ein guter Gott soviel Leid in seiner Schöpfung verursachen oder zulassen? Das immense Leid scheint entweder gegen seine Allmacht oder gegen seine Güte zu stehen. Diese Frage ist einerseits verständlich angesichts des erdrückenden Leides in der Welt, andererseits wird sie oft gestellt, um Gott auf die Anklagebank zu setzen, da eine oberflächliche Spiritualität diese Fragen nicht wirklich befriedigend beantworten kann.
Wie kann an Gottes Gerechtigkeit und Güte festgehalten werden, wenn Gott über hunderte von Millionen Jahren Krankheit, Missbildung, Grausamkeit, Tod, Artentod, und zuletzt (beim Menschen) auch die Möglichkeit der Abwendung eingesetzt hat, um die Lebewesen hervorzubringen? Das Übel erscheint demnach nicht als „Einbrecher" in eine ursprünglich leidfreie Schöpfung, sondern von vornherein als ihr Hausherr.

Wenn es Gott gibt, woher kommt das Böse? Doch woher kommt das Gute, wenn es ihn nicht gibt. Was wäre beständig gut?
Französische Existentialisten haben geschlussfolgert: „Die einzige Entschuldigung Gottes (angesichts des Übels in der Welt) ist, daß er nicht existiert.“
Die Erfahrungen der Diktaturen des 20. Jahrhunderts zeigten dann, daß atheistische Systeme, die ja eine bessere Welt herbeiführen wollten, immer mehr in das Üble geraten. Ohne Gott scheint die Würde des Menschen nicht geschützt.

Eine prägnante, oft zitierte Formulierung des Problems lautet:

Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:
Dann ist Gott schwach. Und das hiesse: nicht Gott.
Oder er kann es und will es nicht:
Dann ist Gott missgünstig. Das Widerspräche seiner Gnade und seinem Mitgefühl.
Oder er will es nicht und kann es nicht:
Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott,
Oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?

Diese Argumentation wurde von dem Kirchenschriftsteller Laktanz (ca. 250 bis nach 317) überliefert.
Das Theodizeeproblem besteht im Widerspruch zwischen zwei Aussagen. Auf der einen Seite steht die Aussage, es gebe einen allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott – auf der anderen Seite steht die Feststellung, dass es Übel in der Welt gibt.
Verträgt sich die Lehre vom allmächtigen und gerechten und liebenden Gott mit der Erfahrung einer Welt voller Ungerechtigkeiten? Wie lässt sich das unendliche Leid auf dieser Welt mit der Vorstellung eines Gottes der Liebe vereinbaren?

Versuche, das Übel zu erklären

Wenn man solche Betrachtungen anstellt muss man sich immer vor der Anmassung bewahren, wirklich die Gesamtsicht zu haben. Kant warnt vor dieser spirituellen Arroganz: „Wir sind zu begrenzt, um metaphysische Spekulationen anzustellen. Hier stößt unsere Vernunft an ihre Grenzen (Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, 1791).
Das zur Urteilsfindung herangezogene Quellenmaterial und die daraus entwickelten theologischen/philosophischen Denkmodelle sind unzureichend, sind noch nicht vollständig.
Der Mensch steht einfach staunend in einer ihm unbegreiflichen Schöpfung, Zuschauer sozusagen in göttlichen Abläufen.
Und dennoch hat uns Gott Vernunft geschenkt und will natürlich, dass wir sie auch gebrauchen – um die Offenbarung vom Ihm nachzuvollziehen.
In diesem Zusammenhang sind die folgenden Gedanken auch zu verstehen.


-Wir leben in der besten aller möglichen Welten (Leibniz)
Nach Gottfried Wilhelm Leibniz gibt es eine unendliche Anzahl möglicher Welten. Von diesen hat Gott nur eine geschaffen, nämlich die vollkommenste, in der das Übel den kleinsten Raum hat („die beste aller möglichen Welten“). Jede Form des Übels ist letztlich notwendig und erklärbar.
Leibniz sagt, dass das „malum metaphysicum“, das metaphysische Übel natürlich sei. Das Geschaffene ist notwendig unvollkommen, da es sonst mit Gott identisch wäre.

Hätte ein allmächtiger Schöpfer nicht doch eine anders geartete Schöpfung erschaffen können?
Nein, er schuf die Beste aller Welten
-Er hätte sie so beschaffen können, dass sie ewig ist. Das wäre die ewige Trennung zu Gott.
-Er könnte jedem einzelnen Wesen eine eigene Welt geben. Das wäre unendliche Langeweile.
- Eine andere Option wäre es, der Menschheit den freien Willen zu nehmen. Aber das würde jegliche Liebe verunmöglichen.
-Er legt viele Lebewesen in eine Welt. Das wäre die Hölle. Seine Gnade ist die Vergänglichkeit und die inhärent in jedem Moment liegende Möglichkeit zur Rückkehr zu ihm.


-durch Annahme der Freiheit des Menschen
Einen weiteren Ansatz bei der Lösung der Theodizee-Frage liegt in der Annahme, dass Gott dem Menschen Freiheit und Eigenverantwortung in seinem Handeln lasse. Ohne Freiheit sei Liebe nicht zu verwirklichen.
Diese Freiheit birgt aber das Risiko des Scheiterns. Doch hier kann man weiterfragen, ob dieses Risiko nicht vermeidbar wäre, ohne die Liebe in Freiheit zu verlieren.

Da das zeitlich-irdische Leben zwar ein sehr hohes, aber nicht das höchste Gut ist, muss es weder von Gott noch von den Menschen mit allen Mitteln angestrebt werden. Das höchste Ziel bzw. Gut des Menschen ist immer die Rückkehr, die ewige Beziehung des Lebewesens mit Sri Krishna, d.h. die maximal mögliche Gemeinschaft mit Gott.
Wenn man denkt, dass irgendein Beschwernis oder Leid, das man in samsara (dem Kreislauf der Geburten und Tode) durchlebt, eine andere Ursache hätte, als seine Trennung zu Gott, so ist das die perfekte Definition von maya (dem, was eben nicht ist).

Gott bewirkt das Leid und das moralische Übel nicht, aber lässt die Würde des freien Willens zu, der selbst Abwendung von der Wirklichkeit beinhaltet. Zur gleichen Zeit macht er alle Arrangierungen, um die Seele wieder zur Ewigkeit hinzulocken. Er überlässt der Seele die Möglichkeit der Wahl innerhalb der Grenzen der Karma-Gesetze, die den übertriebenen Egoismus regeln sollen und die ja nur einen Ersatz-Gott darstellen, wenn man dem liebenden Austausch ausweichen möchte.
Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich nicht aus der Welt hinausdrängen, aber sehr wohl aus unserem Blickfeld. Wie lange will man noch Widerstand leisten?


-Die Perspektive der Reinkarnation
Wenn sich das Theodizee-Problem in seiner ursprünglichen Formulierung nicht auflösen lässt, muss dies nicht unbedingt heißen, dass Gott die ihm zugeschriebenen Eigenschaften nicht hat. Möglich ist auch, dass die gemachten Annahmen zu einfach sind: Gottes Güte besteht darin, den Menschen einen Zeitrahmen von unendlich vielen Leben zu geben, in welchen sie durch die von ihnen erwünschte Trennung zur Wirklichkeit, die sie als Leid empfinden, langsam korrigiert wird uns sie lernen, sich im göttlichen Sinne zu verhalten.
Vor allem kann das Böse, das den Unschuldigen trifft, nicht damit erklärt werden, daß es ihm zur Erziehung gereicht. Die Frage aus der Reinkarnation ergibt sich: Gibt es Unschuldige?
Reinkarnation erweitert den Betrachtungshorizont der Lebensgeschichte eines Wesens und lässt Ursachen erkennbar werden, die in der Einmaligkeitstheorie menschlichen Lebens einfach nicht ersichtlich sind. An diesem Punkt braucht es die Erweiterung der Perspektive durch die Reinkarnation. Das Buch wird effektiv nicht verstehbar, wenn ich nur eine einzige Seite aus ihm herausreisse.
Gottes Allgüte ist mit der auf ein Lebensausschnitt reduzierter Perspektive nicht erfassbar. Wenn die göttliche Führung über mehrere Leben beobachtet wird, erkennt man, wie er eine Seele langsam und vorsichtig wieder in Richtung ewiger Heimat lenkt und ihr Sadhu Sanga, spirituelle Gemeinschaft ermöglicht. Dies führt zu einer vergrösserten Intensität und Sehnsucht im Herzen der Seele.


-Falsch projizierte Sehnsucht
Das Leid resultiert nur aus der Lebensgier des Menschen, aus dessen krampfhaften Klammern an das Aufrechterhalten einer oberflächlichen Identifikationsrolle als Mensch mit bestimmten Bedürfnissen. Man suchte nach Unendlichkeit ... aber im Endlichen, und dadurch wurde man "unendlich" umhergetrieben --in samsara. Aber nichts liess einen stehen bleiben, schenkte einem das anfangs Verheissene. Anhalten kann man erst bei dem, nachdem man eigentlich sucht -- in der intensivsten Liebesbeziehung – bei Sri Krishna. Sehnsucht fliesst immer zum Unbegrenzten.

Leiden ist nicht das, was man bisher für Leiden gehalten hat.
Das Leiden gibt sich nicht offen als Leiden zu erkennen. Die meisten Menschen glauben. Leiden bedeutet, dass der Körper oder die Psyche krank ist. Wenn sie wieder funktionieren, dann denken sie, das Leiden sei angeblich wieder vorbei.
Dann gibt es alle möglichen Techniken und Ablenkungen, um das Leiden auszublenden, die Bemühung für medizinische und feinstoffliche Heilung, kleine Vergnügungen zu suchen, und irgend etwas zu tun, damit das Leiden nicht offensichtlich ist.
Leiden ist die Beziehung zum Ich-Gedanken. Ständig nimmt man Gedanken wahr, die mit den drei Buchstaben I C H beginnen.
Diese sind die Gedanken, die man nicht mehr wahrnimmt, sondern zu denen man wird, wenn sie auftauchen.
Aus diesen Gedanken entstehen dann Gefühle und Empfindungen, und man wird zu ihnen, aus ihnen geformt. sada tad bhava bhavitah (Bhagavad gita 8.6)

Es ist doch so, dass das Bewusstsein von Leid bisher immer erst dann entstanden ist, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen verlief.
Jahrelang geht es einem gut. Man hat einen wunderbaren Partner, beruflich macht man Fortschritte, mit seiner Familie versteht man sich bestens, man verdient genug Geld und man findet ohne Probleme eine schöne Wohnung. Es scheint keinen Grund zum Leiden zu geben.
Irgendwann bemerkt man eine gewisse Leere. Vielleicht muss man einfach seine Affirmationen intensivieren? Aber der Moment kommt, in dem man ahnt, dass etwas viel Grundlegenderes nicht stimmt. Aber die meisten Menschen brauchen dafür nicht Jahre, sondern Jahrtausende. Jahrtausende für die einfache Erkenntnis, dass man leidet.

Es ist nun aber nicht so, dass sich einem der Wunsch zu leiden als Wunsch zu Leiden zeigt. Er erscheint einem als Wunsch, glücklich zu sein – ohne Gott. Aber man erkennt die Verkleidung nicht.
Zum Beispiel kann er sich zeigen als der Wunsch, auszuwandern, oder als der unerfüllte Wunsch nach einem Kind oder einem angeblichen Seelen-Partner. Jeder unerfüllte Wunsch, der sich auf Vergängliches richtet, ausserhalb der Beziehung zu Sri Krishna, ist eigentlich der Wunsch, zu leiden, ist nicht sein wirklicher Wunsch.

Hoffnung auf Erfüllung innerhalb dieser Welt und Leiden sind unzertrennlich. (Bhagavad Gita 18.54 - na socati na kansati)
Gottes Eigenschaften sind neu zu verstehen. Er ist nicht Teil der dualen Erfahrung des Menschen
Gott ist nicht gut. Auch nicht nicht-gut. Er ist jenseits unserer Wertung. (caitanya caritamrita, 3.4.176) Er ist in der Absolutheit und er ist nicht wahrnehmbar durch die duale Begriffswelt der kleinlichen Hoffnungen des Menschen.



Abschlussgedanke
Das Leid und die Grauenhaftigkeit der Welt hat in vielen Menschen zu einem Enttäuschungs-atheismus geführt.
Bei Naturkatastrophen oder Erdbeben betreut man Verletzte und Angehörige, bietet Beistand und Hilfe – aber es bräuchte auch eine theologische Aufarbeitung: Ist diese Grausamkeit der Natur vereinbar mit der Allgüte Gottes?
Krankheit, Unglück, Schicksalsschläge werden schnell als Strafe Gottes für das Fehlverhalten der Menschen interpretiert. Man hat durch Schuld den Himmel provoziert. Man will es verstehen und einordnen können. Wird die Welt nach einer moralischen Ordnung interpretiert, kommt sie einem häuslicher vor. Gott ist ein Vater, der seine Kinder lenkt – durch Lob, Strafe und Tadel. Das ist ein sehr naives und archaisches Gottesbild, von dem sich viele Menschen unserer Zeit intuitiv befreit haben.
Das theologische Problem darin ist ein falsches Naturverständnis. Die Natur ist Natur und man kann von ihr aus keine Rückschlüsse auf Gott ziehen. Religion bedeutet, sein Leben von Gott her zu ordnen. Die Liebe lernt man nicht in der Natur.
In der Natur bewirken Schicksalsschläge die Ausschliessung aus der eigenen Gruppe. Eine Öl-Möve wird vom Schwarm zerhackt, da sie anders aussieht. Die Schwachen und Kranken in der Natur sollen sich nicht fortpflanzen, sie sind nicht zur Generation zugelassen. Darwinisten legitimieren aus dieser Grausamkeit der Natur ein rücksichtsloses Weltbild, wo einfach nur der Stärkere überlebt (survival of the fittest).
Der russische Anarchist Kropotkin schreibt, dass auch Mitgefühl, Barmherzigkeit und das Rückstellen eigener Interessen zugunsten Anderer Bestandteil der Natur sind. Aber die absolute Güte lässt sich nicht aus der Natur ableiten, da die Ambivalenz von Rücksichtslosigkeit und Mitgefühl inhärent in ihr existiert.

Diese Welt sei ein Zeugnis von Gott, der in ihr seine Güte, Macht, Weisheit und Schönheit offenbare. Das ist grundlegend falsch. In der Gita sagt Krishna: abhinna prakritir astadha „Diese Welt ist meine abgetrennte Energie.“ Und diese kann man nie mit ihm gleichsetzen. Gott schwebt keine Welt vor, in der die Menschen nicht leiden. Deshalb darf man die Gnade Gottes nie auf die körperliche und feinstoffliche Ebene reduzieren. Krishna will uns nicht die Traumidylle schaffen.
Gott ist mehr als seine duale Schöpfung der materiellen Welt, der Natur.
Das Böse sei durch gefallene Engel, den Satan, Demiurgen oder miteinander konkurrierende Weltprinzipien zu erklären. Als Beispiel hierfür kann die altpersische Religion Zarathustras dienen, die davon ausging, dass zwei gleich mächtige Urprinzipien die Welt beherrschen: Auf der einen Seite das gute, gebende, göttliche Prinzip, auf der anderen Seite das böse, nehmende, widergöttliche. Auf diese Art und Weise der Darstellung wird die Allmacht Gottes relativiert, denn die beiden, voneinander untrennbaren Prinzipien ergeben eine dualistische, Gutes und Böses enthaltende Gottesvorstellung.
Andere, ebenfalls dualistische Gottesvorstellungen finden sich in der Gnosis und im Manichäismus. Ein atheistisches Beispiel wäre das Ying-Yang der chinesischen Philosophie, welches die Geschehnisse in der Welt durch dualistische Urprinzipien erklärt.

Es ist nicht möglich, von der Welt her Gott zu denken. Die Theologie kann nicht Kausal-Fragen beantworten („warum ist es geschehen?“), sondern das Wozu. Es geht um die teleologische Frage, der Frage, was Gott mir uns beabsichtigt.
Die Natur nimmt keine Rücksicht auf ihre Geschöpfe. Religion kann deshalb ihre Grundlage nicht in der Natur finden. Pantheismus ist oberflächliche Schwärmerei, denn es gibt in dieser Natur auch die Grauenhaftigkeit und die Rücksichtslosigkeit. Wenn man Gott auf die Natur, seine Schöpfung, reduziert, dann wäre diese Ambivalenz die verpflichtende Vorlage für unser eigenes Handeln. Dann müsste ich so umgehen, wie es die Natur tut (viele Fleischesser verteidigen ihre Mordeslust mit dem Argument, dass Tiere ja auch Fleisch essen) – aber genau das darf ich nicht. Der Mensch hat als einziges Wesen einen anderen Auftrag: Nicht nach dem Gesetz Gottes zu leben („natürlich“), sondern nach dem Willen Gottes. Dharma ist nicht Ethik, sondern eine von Gott her definierte Verhaltensweise. Prema.

Sri Krishna ist der Hintergrund jenseits der Phänomenalität dieser Welt.
Augustinus schreibt in „Confessiones“, wie er auf die Suche nach Gott geht und die Sonne, den Mond, die Sterne, die Wüste, das Meer, die Wunderbarkeit der Natur befragt und sie alle sagen ihm: „Ich bin nicht der Gott, nach dem du suchst.“

Krishna wohnt in der Sehnsucht nach einer Liebe, die in der Natur nicht zu finden ist. Die Natur ist nie der Ruheort der Seele – sie kann erst im Unendlichen ruhen, erst bei Gott.

Der Mensch hat etwas, was es in der Natur nicht gibt – Religion, der Entwurf einer übernatürlichen Liebe, die auf Gott gerichtet ist und von da her innerhalb dieser Welt handelt.
Es geht nicht darum, alles in dieser Welt lieben und es mit Gott gleichsetzen zu wollen, sondern nur auf Gott gerichtet die Liebe wieder in die Welt einfliessen lassen.
Die Liebe Gottes lässt sich nie ergründen in der Natur, sondern trotz der Natur. Wenn man Gott nur auf seine Schöpfung reduziert, den König also nur noch als den Gefängniswächter betrachtet, werden der Enttäuschungsatheismus und das Problem der Theodizee die natürlichen Folgen sein.

Leiden ist der Hinweis darauf, noch nicht angekommen zu sein. Noch nicht seine wirkliche Bestimmung zu leben und sich noch im Provisorischen aufzuhalten, eben ausserhalb seiner Nitya-sambandha (seiner ewigen Beziehung zu Radha Krishna).

Es geht um unbedingtes und restloses Vertrauen zu Gott, trotz Unfähigkeit, das Rätsel des Leids und des Bösen enträtseln zu können. Man kann die genaue Ursache des Leides nicht immer „erklären“, aber bestehen.
Nachdem Hiob durch das Leid gegangen ist, sagt er am Ende des Buches in Hiob 42,5: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen.“
Ist Gott leiderzeugend? Hiob legt den Finger auf dem Mund und schweigt vor Staunen in Anerkennung des riesigen Ausmasses seines Nichtwissens. Er verliert die Grundlage, sich zu beschweren.

22. Januar 2008

Der seidene Faden

Was passiert, wenn ich spüre, dass mein Leben nur noch an einem kleinen Faden hängt?
Wenn ich mich mit meinem grob- und feinstofflichen Körper gleich setze - diese sich aber in einem ständigen Wandel befinden - und Wandel ist gemäss dem Bhagavatam eine Form von Zerstörung (nitya pralaya SB 12.4.36) - hängt meine ganze Identität ständig an einem ganz dünnen Faden.
Und das spüre ich - ganz fein und unbewusst.
Deshalb tätige ich aus Angst heraus eine latente und intensive Gegenbemühung - diese nenne ich "mein Leben" - um die Position des "Ich" zu sichern.
Doch was geschieht, wenn ich die lächerliche Bemühung dieses "Ich" zu verteidigen, vollkommen ablegen würde?

Es ist so fruchtlos, immer wieder zu versuchen, diesen Faden zu verstärken - Arrangierungen zu tätigen für Erhalt, Ansehen und Unterhaltung in dieser Welt.

Denn es ist gar nicht wirklich das Leben (das wirkliche Leben), das an diesem dünnen Faden hängt. Es ist nur das Leben und Sterben (samsara), das Festhalten-Wollen an äusseren Identifikationen, die an diesem Faden hängen.

Alle verschiedensten Erfahrungen und der ständigen Bewertung derer, die ein Lebewesen in den drei Bewusstseinszuständen (Tiefschlaf, Traum und Tagtraum - das, was ein Mensch dieser Welt als "Wach-Zustand" bezeichnet) erlebt, sind nichts anderes als Täuschung (am wahren Leben vorbeigelebt)."
(SB 12.4.25)

In meinem Wahn der falschen Identifikationen verschwende ich Leben für Leben, um Illusionen zu schützen.
Ich in Meiner wirklichen Identität hänge überhaupt nicht an einem seidenen Faden.

ajo nitya sasvatam yam purano na hanyate hanyamane sarire (BG 2.20)

"Für die Seele gibt es zu keiner Zeit Geburt oder Tod. Sie ist ungeboren, ewig, immerwährend und urerst. Sie wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird."

Aber die Existenz, die ich bisher als "mein Leben" angenommen habe, hängt sehr wohl an einem seidenen Faden. Was ist denn dieser Faden? Die Beziehung zu dem Gedanken "ich", jedes Identitäts-Gefühl ausserhalb meines siddha-deha (des ewigen spirituellen Körpers).
Und alles, was daraus resultiert ist Angst, Getrenntheit, Schmerz und Arroganz.
Und wenn ich an diesem feinen Faden angelangt bin, dem Vermögen meiner Bedingtheit (des ahankara), sich als ein Teil dieser Welt fühlen zu wollen, berühre ich meine verdrehte Grundbeziehung mit dieser Welt, die völlig zerstört werden muss, wenn ich wirklich leben will.

22. Dezember 2007

Weihnachtsbrief

Offener Brief an denkende Menschen

Unser Umgang mit Tieren ist geprägt von einer tiefen Irrationalität.
Auf der einen Seite werden Tiere wie zum Beispiel ein Hund geliebt und verhätschelt und der Missbrauch an ihnen ist gesellschaftlich geächtet und empört schreibt man darüber in Zeitungen. Aber zur gleichen Zeit werden andere Geschöpfe wie zum Beispiel das Schwein, das eigentlich keinerlei bedeutende biologische oder psychologische Unterschiede zum Hund aufweist, gequält und getötet, geschlachtet und gegessen. Es scheint sogar ganz normal, seinen Weihnachtstisch mit so einem gemarterten und geschlachteten Tier zu „zieren“.
Tiere sind entweder geliebte Haus- und Kuscheltiere oder tauchen unter in einer anonymen Masse, die wir dann töten lassen und auf dem Teller verspeisen.

Du würdest doch deinen Hund oder deine Katze oder deinen Kanarienvogel nicht umbringen und aufessen… Warum dann Schweine und Kühe, die genauso sensible Wesen sind und die ebenso fähig sind, Gefühle auszutauschen?Du fändest es doch auch nicht richtig, wenn überlegene Ausserirdische auf die Welt kämen und uns so behandelten, wie wir Tiere behandeln. Warum behandeln wir dann Tiere so?Du lehnst doch das Recht des Stärkeren als ethische Richtschnur ab. Warum soll es dann gegenüber Tieren gelten?

Es ist eine erstaunliche Wahrnehmungsverzerrung, der die fleischessende Normalbevölkerung nachhängt: Wie schrecklich und unverständlich finden es doch alle, wenn sie in der Zeitung von Menschen lesen, die aus trivialsten Gründen einen Mord begehen. Aber gibt es einen trivialeren Grund, jemanden umzubringen oder umbringen zu lassen, als den Wunsch nach einem bestimmten Geschmackserlebnis?

Eine Frau betrat eine Tierhandlung, um Vogelfutter zu kaufen, und da es Winter war, trug sie ihren Kaninchenfellmantel. Als sie an einem Kaninchenkäfig stehen blieb, um ein paar Zwergkaninchen zu streicheln, hörte sie hinter sich eine Frauenstimme, die sehr laut sagte: „Finden sie es nicht heuchlerisch, dieses Tier zu streicheln, wenn sie dabei seine ganze Familie am Leib tragen?“

In diesem Zwiespalt leben die fleischessenden Tierfreunde… einerseits liebt man die Tiere, erfreut sich an ihnen, und andererseits ist man durch den Fleischkonsum Auftraggeber für ihre Tötung.

Inmitten unserer hoch entwickelten westlichen Kultur, inmitten all den strahlenden Monumenten unserer Geschichte, Kunst, Religion und Wissenschaft, gibt es die dunklen Bereiche. Das sind die Tierfabriken und Schlachthöfe – gesichtslose, geschlossene Bereiche, in denen die Gesellschaft ihr schmutziges Geschäft der Misshandlung und Ermordung unschuldiger, fühlender Wesen abwickelt. Wir sind brave Bürger und haben eigentlich eine ziemlich gute Vorstellung davon, was dort geschieht, aber wir wollen es lieber nicht so genau wissen…..
Genau das macht unsere Komplizenschaft noch gemeiner.
Den Vegetarismus auch aktiv zu lehren bedeutet Einsatz für Gerechtigkeit: es ist die Identifikation mit den Machtlosen und Verwundbaren, den geknechteten und unterdrückten Opfern. Sofern wir nicht an den faschistischen Grundsatz glauben, dass Macht vor Recht geht, haben wir kein Recht, unseren Mitgeschöpfen, den Tieren, Schaden zuzufügen und ihre Körper zu essen.
Wie lange will man das Inferno ansehen und schweigen?
Was haben die Tiere getan, dass sie dies verdient hätten?

Ein totes Rind oder Schaf auf der Weide gilt als Kadaver. Dasselbe Aas, zerlegt und auf dem Teller liegend, wird nun plötzlich „Nahrung“ genannt.

Fleischessen ist eine grässliche Form des Vergnügens. Was ist das für ein Vergnügen, wenn man nachdenkt, wie Fleisch zu Fleisch wurde?
Beim Betrachten von Würsten in einem Schaufenster sprach ich zu ihnen:
„Ihr seid einmal lebendig gewesen, ihr musstet leiden, aber jetzt habt ihr ausgelitten.
Gibt es irgendwo im Kosmos eine Gedenktafel, auf der von euch steht?
Man erkennt eure ursprüngliche Form nicht mehr, verwischt ist das schwerzerfüllte Gesicht, vergossen sind die Tränen. Wahrscheinlich seid ihr noch gefüllt von der Angst und dem Schrecken eurer Vergangenheit….
Dass ihr vor kurzem ein fühlendes Wesen gewesen wart, will niemand mehr wissen….
Unsere Lust, Fleisch zu essen, hat euch so verformt…..“

Ein fühlender und denkender Mensch sollte doch zum Schluss kommen, dass man nicht friedfertig sein kann, wenn man gleichzeitig andere Lebewesen tötet, dass man nicht für Gerechtigkeit sein kann, wenn gleichzeitig Wesen, die schwächer sind als man selbst, zur Schlachtbank führen und sie quälen und morden lässt – durch das Essen von Fleisch.

Wer Fleisch isst oder auf die Jagd geht, erklärt sich mit der Grausamkeit der Natur einverstanden und mit jedem Bissen Fleisch oder Fisch, den er isst, erklärt er: Wer die Macht hat, hat das Recht.
Vegetarismus ist der Ausdruck des Protestes gegenüber dieser Haltung. Das Engagement unserer Empörung darüber ist gering und dennoch wirkungsvoll: Aufzuhören, Fleisch zu essen.

Das Gegenteil von „losgelöst“ ist nicht nur „angehaftet“, es ist auch verkrampfte Askese.
Das Gegenteil von „mutig“ ist nicht nur feige, es ist auch Übermut.
Das Gegenteil von „gut ist nicht nur „böse“, es ist auch die Gleichgültigkeit.
Und gerade die Gleichgültigkeit zeigt sich auf so tragische Weise in unserem Umgang mit Tieren. Fleischessen ist nicht eine harmlose Essgewohnheit, die einem egal sein darf.
Wer in einer Militärdiktatur nicht wissen wollte, was mit den verschwundenen Nachbarn geschah, war ein feiger Mitläufer. Wer heute nicht wissen will, was in Schlachthöfen mit Tieren passiert, ist ein egoistischer Mittäter. Am moralischen Stellenwert des Nicht-wissen-Wollens hat sich nichts geändert.

Es gibt Menschen, die wollen dies nicht sehen, da das Hinsehen ihre Beteiligung beim Morden aufzeigen würde und ihnen den Appetit verderben würde. Was ist das für ein Appetit, der von der Ignoranz lebt?


Syam Priya kunj – Ort der Stille und der Versenkung
www.radhe.ch / www.sanatan-dharma.ch

2. Dezember 2007

Dem Ruf Gottes folgen

Der Gott der eigenen kleinen Hoffnungen, der in der eigenen Lebensbilanz ein erfreulicher Pluspunkt sein soll, ist nicht der Gott der Wahrheit. Der Allmächtige und Allbarmherzige lässt sich nicht verbuchen – weder für eine bestimmte Konfession noch für den Eigenbedarf.
Er tritt ergreifend und erschütternd in unser Leben ein, reisst uns aus allem Lebensallerlei heraus und weist uns kraftvoll den Weg.

In der Bibel gibt es da schöne Beispiele:

Mose hütet ein paar Schafe am Berge Horeb, wo plötzlich die Weisung Gottes an ihn gelangt: „Führe mein Volk aus Ägypten heraus!“ Mose weicht zunächst zurück, dann aber schlägt er all seine privaten Lebenspläne in den Wind und tut, was ihm Gott aufträgt.

Den Probheten Jona packt schlicht die Panik , als Gott ihn ruft. So schnell er kann, macht er sich zu Schiff aus dem Staub. Das Schiff kommt in ein riesiges Unwetter und als Jona sich zur Errettung der Besatzung über Bord werfen lässt, frisst ihn ein grosser Fisch, der ihn aber auf Geheiss Jahwes nach frei Tagen wieder an Land speit. Da ist ihm natürlich klar, dass er dem Rufe Gottes nicht mehr ausweichen kann.
Petrus und Andreas werden von Jesus von ihren Fischerbooten weg berufen und folgten ihm auf der Stelle nach.

Dieser Ruf ist jetzt. Ob man aber dazu einwilligt und sich hingibt, oder ob man weiterhin Widerstand leistet, ist die individuelle Entscheidung der Seele. Das ist schicksalsprägend.

Die Intervention Gottes ist niemals harmlos und „wunschgemäss“. Der allmächtige Gott ist nicht unser Angestellter. Sein Geist weht wo, wie und wann er will. Er könnte dich jetzt ergreifen und dann kommt die freiwillige Einwilligung unsererseits. Sind wir jetzt dazu bereit?
Geistesgegenwart bedeutet, für diesen Ruf jederzeit bereit zu sein und für die Konsequenz einzuwilligen.

Lebendiges Leben ist, das Unerwartete zuzulassen, dich dem Moment zur Verfügung zu stellen, bereit zu sein für die Intervention Krishnas. Die grundlegend religiöse Haltung ist die des Horchens, sensibel zu sein für den Ruf.
Wie weit ist man bereit, Folge zu leisten, sich in Anspruch nehmen zu lassen von Krishna, auch wenn das mit persönlichem Verzicht verbunden ist?
Simone Weil: „Wer mit Gott nicht eines seiner Wunschbilder empfangen will, der muss warten können – in gänzlicher Aufmerksamkeit.“

30. November 2007

Aufruf zur Sorglosigkeit

Der Mensch sorgt sich. Dasein wird als Sorge verstanden.
Krishna ruft die Seele immer wieder an, alle Sorge gehen zu lassen (ma sucah – Bhagavad gita 18.66; na tvam socitum arhasi – Bhagavad gita 2.26, 2.27, 2.30).

Viele verstehen das „in der Welt sein“ als Herausforderung, sich um seine Existenz zu sorgen. Alles ist besorgeniserregend. Das Dasein von Sorge bestimmt. Die Sorge treibt an, zu arbeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen, die Zukunft abzusichern, den Besitz zu mehren – alles im Glaube, irgendwann einmal ruhig und sicher leben zu können. Die Sorge macht den Menschen unruhig und gequält und das verhindert den Zugang zur Tiefe, den Zugang zum eigenen Wesen.

Die Heiligen verstehen den Menschen anders – nicht als einer, der sich prinzipiell zu sorgen hat, sondern als einer, der vertrauen darf, als einer, der sich im Vertrauen zu Krishna, in welchem er mit allem versorgt wird, vollkommen aufgehoben weiss. (Srimad Bhagavatam 2.2.3-5)

In der Bergpredigt spricht Jesus von dieser Sorglosigkeit:
„Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt…. Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern? (Mt 5,25.27)

Der bedingte Geist will das nicht verstehen. Er redet einen ein, es sei unverantwortlich, nicht für das Morgen zu sorgen. Es ist nicht Faulheit und das Umgehen der Arbeit und auch nicht ökonomische Naivität, sondern die erste grundlegende Transzendenzerfahrung : in Sri Krishnas perfekter Ordnung zu leben und von ihm erhalten zu werden (anna-maya).

Denn Sorge hat immer mit Angst zu tun, sie ist ein Handeln aus Angst, sie ist die praktizierte Angst ums Dasein.
Arbeit ist gut, aber es gibt auch die Tendenz in uns, uns in der Arbeit zu verlieren. Angst lässt einen hineinsteigern. Statt im Vertrauen auf die Fürsorge Krishnas (Bhagavad gita 9.22) zu arbeiten, glaubt der Mensch voller Ängstlichkeit, alles hänge von ihm ab. Es ist die Angst, zu kurz zu kommen (in einer ungerechten, d.h. gottlosen Welt zu leben) nicht genügend zu haben, die ihn dann unruhig und ausserhalb der Gelassenheit antreibt und umhertreibt. Diese Angst überschattet das Tätigsein. Arbeit wird dann der nervöse Ausdruck vom Entgegenstämmen der Existenzangst.
Es ist verständlich, dass der Mensch sich ängstlich um sein Leben und seine Zukunft sorgt. Denn sein Dasein in dieser Welt ist in jedem Moment gefährdet. Aber die Ungesichertheit seiner Existenz soll ihn nicht in die ängstliche Sorge treiben, sondern in das tiefe Vertrauen darauf, von Krishna aufgehoben zu sein.

Ewig gilt der Grundsatz:
„Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6.33) Es geht nicht darum, die irdische Existenz nicht sinnvoll und verantwortungsvoll zu planen und sich auch darum einzusetzen. Aber die Frage ist, worum es einem im Letzten geht. Und dieser Frage muss absolute Priorität eingeräumt werden. Die Menschen aber halten sie für einen Luxus, und man könne ihr ja nachgehen, wenn endlich einmal alles andere geregelt sei – und das wird natürlich nie der Fall sein.
Wenn man sich nur noch um sich und seine Angst kreist, dann wird sein ganzes Leben von der Sorge aufgefressen und man wird voller Unruhe immer nach neuen Wegen der Absicherung Ausschau halten.
Der Blick auf die Wirklichkeit Radha-Krishnas relativiert die Unendlichkeit der Sorgen. Die Götzen der Welt, an denen man sich sonst ängstlich festhält und sich festklammert geben auch dann keine Ruhe, wenn man sich ihnen ganz ausliefert.

Ängstliches Sorgen vernebelt den Geist. Die Kunst besteht darin, sich zwar um seinen Erhalt in dieser Welt zu kümmern, aber gleichzeitig die Gelöstheit beizubehalten, nicht in einen Krieg mit den Umständen zu treten. Man soll das tun, was in seiner Hand ist und sich dann vertrauensvoll Sri Krishna überlassen und sich nicht sorgen um Dinge, die ausserhalb seines Einflussbereiches sind. (siehe Bhagavad gita 2.47, 18.6)

Aber wenn einen die Alltagssorgen, die Absicherungspläne, bis ins Gebet hinein verfolgen, oder gar den Zutritt zum inneren Raum verbauen (immer mit der gleichen Ausrede – man hätte keine Zeit), dann zeigt dies auf, dass etwas in einem nicht stimmt. Dann leidet man an einer Prioritätenverschiebung. Das kleine Ich, um das dann das Leben kreist, ist aber unersättlich. Erst in der Sorglosigkeit kreise ich mich nicht mehr nur um mich selbst und bin offen für das Du.
Die Sorglosigkeit meint nicht, alle Probleme in den Griff zu bekommen, sondern auch ja zu sagen zu dem Leben, wie es nun einmal ist, ja zu sagen zu einer Welt, die natürlich unvollkommen ist – letztlich ja zu sagen zu Sri Krishna, der sich nicht nach menschlichen Vorstellungen zu richten hat, sondern der der ganz Andere und Unbegreifliche ist.
Sorglosigkeit basiert auf der Gewissheit, aufgehoben zu sein selbst dann, wenn sich die Arrangierungen aufzulösen scheinen.

„Du hältst mich fest in deinen Armen. Ich falle tief in deine gütigen Hände.
In Geborgenheit.“

27. November 2007

Tradition und Traditionalismus

Tradition und Traditionalismus

Ich glaube, dass viele Vaishnavas im Westen schon mit den Identifikationen mit der Kultur gerungen haben, aber öffentlich wurde das noch viel zu wenig thematisiert.

Aus dem Bedürfnis, doch "glauben" zu wollen, schluckt man dann auch noch gleich die kulturelle Folklore. Und genau diesen Schritt der Untreue zu seinem Innersten führt in die Selbstentfremdung und nicht zur Selbstverwirklichung.

Gerade religiöse Konvertiten, die eine andere und neue Religion übernehmen, sollten sich doch dieser Frage stellen, was sie gerne in sich integrieren möchten und was für sie unverantwortbar ist zu schlucken.


Institution, Dogma, Ritual, Abläufe in einer religiösen Festivität, Religionslehre und die daraus entwickelten moralischen Verhaltensformen bilden den statischen Aspekt der Spiritualität. Diese statischen Faktoren sind wie ein Leitungsrohr, durch das die dynamische Überlieferung fliesst. Wenn die Religion als moralisches Regulativ, als Regeln und Regulierungen, nicht durch den Prozess der Akulturisation hindurchgeht, stellt sie ein Fremdelement in der psychischen Struktur eines Lebewesens dar und kann dann sehr schnell zur Selbstentfremdung hinführen.
In diesem Rohr des statischen Aspektes entstehen – leider auch – Ablagerungen, und es kann möglicherweise so verstopft werden, dass nichts mehr durchfliessen kann.
Der dynamische Aspekt ist der ewige Inhalt, die Überlieferung, die es immer wieder neu zu verstehen und erfassen gilt. Das Unbegrenzte kann vom Begrenzten nie vollständig erkannt werden, weswegen die Suche der Seele nach Gott kein Ende kennt.
Die Priorität soll dabei immer dem dynamischen Aspekt der Religion geschenkt werden. Wenn dem statischen Aspekt mehr Gewicht zukommt wie dem dynamischen, dann besteht eine starke Tendenz zum Fundamentalismus.

Es mag widersprüchlich erscheinen, von einer „dynamischen Überlieferung“ zu sprechen. Im allgemeinen Sprachverständnis gehört der Begriff „Überlieferung“ eher auf die statische Seite und wäre eher wie ein Leitungsrohr. Aber Überlieferung meint eigentlich den Prozess, in dem ein Inhalt vermittelt wird, und das ist etwas Aktives.
Viele Spiritualisten stellen sich vor, dass die Überlieferung wie ein Paket weitergegeben wird, wie eine Mitgift, die es einfach zu akzeptieren gilt. Das wäre einfach eine digitale Übertragung einer Information und nicht „Parampara“, die heilige Übermittlung ewiger Inhalte.

Überlieferungen ändern sich, wenn sie weitergegeben werden. Die Herausforderung dabei ist, der Überlieferung oder Tradition treu zu bleiben, ohne dem Traditionalismus zum Opfer zu fallen.
Mit anderen Worten soll die Überlieferung inspirieren, aber nicht einfach imitiert werden; man soll ihr treu sein, aber dennoch seinen eigenen Weg gehen.

Es macht einen grossen Unterschied, ob man in der Tradition verwurzelt ist oder darin feststeckt. Man kann manchmal nicht auf Anhieb sagen, ob ein Mensch oder eine bestimmte Gemeinschaft in der Tradition feststeckt oder darin verwurzelt ist, ebenso wenig wie man sagen kann, ob dieses kleine Etwas, das da mitten unter abgefallenen Blättern aus dem Boden ragt, ein verwurzelter Setzling ist oder ein lebloser Zweig, den jemand da hineingesteckt hat. Man muss den Frühling abwarten. Wenn der Frühling kommt, sieht man, ob Blätter wachsen oder gar nichts und er einfach feststeckt.

Wenn Blätter wachsen, sind es natürlich neue Blätter – grundsätzlich die gleiche Art von Blättern, wie sie andere Pflanzen dieser Art immer schon hatten, aber in einem wirklichen Sinn sind sie auch neu und weisen andere Einzelheiten auf.
Es geht darum, die Vergangenheit zu bewundern, ihr dankbar und versöhnt zu sein, und dann neue Wege einzuschlagen.
Das ist die grosse Herausforderung an jede Überlieferung: immer etwas völlig Neues hervorzubringen, und dennoch die Essenz der Wahrheit in der Überlieferung beibehalten. Der Untergang jeder Überlieferung ist die Ritualisierung dessen, was ursprünglich lebendig war.
Überlieferung der Spiritualität bedeutet nicht lebloses Wiederholen des Gewesenen, sondern lebendiges Weiterdenken und Weiterentwickeln des Erfahrenen. Dann ist Überlieferung nicht einfach das Einfrieren des Gewesenen, Stagnation, sondern Fortsetzung und Wachstum.
Nur dann kann von Überlieferung gesprochen werden. Sonst ist es blosses Wahren von Kulturgut.
Srila Bhaktivinod Thakur, ein Heiliger in der Caitanya-Tradition, schreibt 1869 in seinem Artikel „The Bhagavat“:
"Tatsächlich sind die meisten Leser nur Sammelbecken für Fakten, Meinungen und Aussagen, die von anderen Menschen gemacht wurden. Aber dies ist kein Studieren. Der Studierende sollte die Tatsachen lesen, um sein kreatives Denken anzuregen und nicht mit der Absicht, diese Information fruchtlos aufzubewahren. Die Studierenden sollten wie Satelliten alles Licht, das sie von den Autoren empfangen, zurückstrahlen und sich nicht an die Information und den Gedanken festzuklammern und ihn in sich einzusperren.

Gedanken und Ideen sind progressiv, sind etwas Lebendiges. Die Gedanken des Autors und auch von heiligen Texten müssen im Leser ihren Fortgang finden, entweder in Form einer Korrektur oder einer Weiterentwicklung."

Wechseln sich der Empfänger und seine Empfängnisfähigkeiten, so muss auch das Überlieferbare entsprechend ändern. Wächst der Mensch in seiner Selbst-und Wirklichkeitsauffassung, so muss er auch das Überlieferte wachsen lassen.

Jede Handlung ist ein Ritual, aber die Starrheit, mit welcher man sich manchmal daran klammert, verwehrt Zugang zum Beweggrund, zur inneren Haltung, die im Ritual nur Ausdruck findet. Wenn die Verbindung zur ursprünglichen Erfahrung, die im Ritual ausgedrückt wird, verloren geht, und der Ritus dennoch wiederholt wird, und es nur noch für sich selbst steht, dann deutet dies auf einen inneren und/oder äusseren Zwang hin, der niemals das wirklich Heilige zu fördern vermag.
„Alles, ob spirituell oder materiell ist nur eine Frage des Bewusstseinszustandes“ (10.10.4 Erläuterung)
Das bedeutet nicht, dass Wiederholung bereits Zwang oder Ritualismus impliziert. Solange die Nabelschnur zwischen der inneren Erfahrung und dem Ritual nicht gerissen ist, wird das Ritual gespeist und fördert einen.

In der konfessionellen Präsentation der Religion wird immer suggeriert, wie wichtig die Handlungsweise, der Rahmen, das Ritual sind, und dass es notwendig sei für spirituelles Fortschreiten. Die dynamische Seite wird generell unterbetont.
Ein lebendiges Ritual kann auch ohne grosse Agitation und Aufwühlung innerhalb der Tradition geändert werden.