22. November 2012
Advaita
Sri Krishna vereint Einheit mit Vielfalt
In unserer Zeit ist Advaita, die Lehre zur populären Weltanschauung erwachsen. Man kann dadurch auch die peinlich gewordene Frage nach Gott umgehen.
Was bedeutet denn Advaita wirklich?
Befreite Seelen, welche aus dem Entwicklungskreislauf (samsara) herausgehen, gehen nicht in Gott ein im Sinne einer Verschmelzung und überwinden dennoch alle Trennung zu Ihm, ohne jedoch ihre individuelle Identität aufzugeben. Diesen Zustand nennt man Liebe – der Austausch zwischen zwei ewig seienden Wesenheiten, Gott und der Seele.
In der Liebe steht die individuelle Beziehung in einer schöpferischen Spannung mit dem ewigen Miteinanderverwobensein.
2 Arten des Einsseins:
-vastu ekatva (Einheit in der Substanz, Einheit im Sein)
völlige und endgültige und irreversible Aufhebung der Individualität, Verschmelzung mit dem Brahman. Das ist die Erfahrung von Friede.
-dharma ekatva (Einheit in der Bestimmung, Einheit in der Ausrichtung)
Wenn zwei ewige Wesen (Gott und die Seele) ewiglich konfliktlos in einem Austausch stehen. Es besteht aufgrund der Einheit keinerlei Spannung. Das ist die Erfahrung von Liebe.
Wir leben in einer Welt der Konflikte und auch in spirituell-philosophischen Kreisen definiert man sich oft durch Abgrenzung. Ein schwacher Glaube braucht einen Feind. Die anfolgenden Gedanken mögen vielleicht zur Versöhnung wiedersprüchlicher Verständnissen beitragen.
Wenn man glaubt, man müsse eine Wahl treffen zwischen Monismus (advaita) und Theismus (dvaita), dann befindet man sich bereits in der Dualität, welche nicht alles zu umfassen vermag. Die spirituelle Wirklichkeit kann beide Aspekte miteinander auf eine Weise verbinden, dass es als Hinweis auf eine ganz andere Wirklichkeit verstanden werden kann. In der Vielfalt dieser materiellen Welt gibt es nicht Koexistenz zwischen sich widersprechenden Gegensätzlichkeiten. Sie lösen sich auf. Sie hält diese Komplexität parallel existierender Wirklichkeiten nicht aus.
Advaita bedeutet nicht exakt Monismus, aber „nicht-dual“. In dieser Welt erleben wir Einheit und Dualität. Advaita bedeutet: weder noch. Auf einer höheren Wirklichkeit fallen die Gegensätze in einer umfassenden Einheit neu zusammen (coincidentia oppositorum). Koexistenz, die sich nicht gegenseitig auflöst, sondern bereichert. Das ist die harmonisierende Qualität der absoluten Realität.
Dann braucht man nicht irgendwelche Aussagen der heiligen Schriften zu betonen und andere zu bekämpfen nur um seine Weltanschauung zu rechtfertigen, sondern erkennt, dass in der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Aussagen auf eine höhere Harmonie hingewiesen wird. Diese Ganzheit ist für den Verstand nicht zu fassen. Wenn man das Heilige mit den eigenen Vorstellungen überlagert, resultiert nicht die Wahrheit daraus, sondern die eigene Vorstellung der Wahrheit. Die eigene relative Erfahrung des Absoluten darf nicht verabsolutiert werden, denn das wäre die Stagnation der inneren Entwicklung.
Die Advaita-Erfahrung ist Vielheit ohne Konflikt, Einheit in der Zweiheit – das ist Liebe. Die Absolute Wahrheit ist advaya (SB 1.2.11), nicht dual, nicht zweihaft. Das bedeutet, dass es in ihr keine Dualität gibt, dass sie nur eins ist. Unio und comunio – Einheit und Beziehung zur gleichen Zeit gegenwärtig. Eine Einheit, die auch die Vielheit in sich integrieren kann, in der die Gegensätzlichkeiten sich ergänzen.
Die andauernden Gegensätze in den Heiligen Texten sollen dem Studenten begreiflich machen, in unablässigem Bemühen vom blossen Schatten des Wortes zu dem wirklichen WORTE hinzufinden, in dem Wort und Idee und die Sache selbst (die durch das Wort ausgedrückt wird) eins sind.
Das Aufleuchten dieser Erkenntnis im eigenen Innerern wird Spuhrti genannt (das Aufbrechen des Sinnes des Wortes). Die vorher einzig wahrnehmbare Schattenhülle des Wortes zieht sich zurück und das ewig göttliche Wort macht sich aus eigener Initiative in seinem wahren Wesen erkennbar. Es ist das Wort, das eine der Seinsweisen von Gott selbst ist (sabda-brahma), alles umfassend, erfüllend und umhüllend, der letzte Grund von allem.
-Der von Zeit und Raum Unbegrenzte (Vibhu) -Er ist der Gestalthafte (murtiman)
-Er ist unbefleckt durch Wirken (niralepa) -Er ist voller
Tätigkeit (kriyamana)
-Er ist von allen zu verehren (sarvaradhya) -Er ist ein einfacher Kuhirte in
Vrindavan (Nandanandana)
-Er steht jenseits von allem Denken (cintatita) - Er ist mit dem Auge der Bhakti
wahrnehmbar
- Er ist allwissend (sarvajna) - Er ist von Liebe überwältigt (mughdata)
-Er ist allen gleichgesinnt (hat keinen Freund -Seine Geweihten sind ihm lieb.
und auch keinen Feind (BG 9.29) Sie sind in Ihm und Er ist in Ihnen.
(BG 9.29)
-Er ist unbeweglich (anejat – Isopanisad 4) -Er ist schneller als der Geist
(Isopanisad 4)
-Er hat keine Hände und keine Füsse - Er hat eine unbegrenzte Anzahl
(Svetasvatara Upanishad 3.19) Hände und Füsse
(BG 13.14, Rg 10.90.1)
-Er ist von allem ausserordentlich weit entfernt -Er ist allem ausserordentlich nahe
(Isopanishad 5) (Isopanishad 5)
-Er hat keinen Namen -Er hat eine unendliche Anzahl Namen
Scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich und verweist auf eine umfassendere Wirklichkeit hin.
Die Höchste Absolute Wahrheit hat transzendentale Form, Eigenschaften und Charakter. Da sie nichts zu tun braucht – da alles nur von seiner iccha Sakti, seiner Wunsch-Kraft geschieht – spielt sie. Dieses dramatische Liebesspiel des letztendlichen Bewusstseins nennt man lila. Die heiligen Schriften beschreiben dies, um uns die Faszination der Wirklichkeit zu vermitteln.
Krishna hat Acintya Sakti. In dieser Welt schliessen sich Gegensätzlichkeiten aus. Man kann nicht zur gleichen Zeit der Grösste und der Kleinste sein. Aber in der Transzendenz ist es aufgrund seiner Acintya Sakti möglich, Gegensätze zu vereinen. Er ist zur gleichen Zeit alldurchdringende Energie wie auch Individualität.
Krishna, die Absolute Wahrheit, spielt in Vrindavan wie ein Kind. Seine Freunde beklagen sich bei Yasoda, da Krishna Erde gegessen habe. Sie kommt und bezichtigt ihn. Er, der die Ursache von allem ist, der selbst von der Angst in personifizierter Form gefürchtet wird, ist nun wirklich ängstlich vor seiner Mutter. Mutter Yasoda will Sri Krishna von der Erde befreien und bittet ihn, seinen Mund zu öffnen – und erblickt in ihm Millionen von Universen, die gesamte Schöpfung.
Das ist die Bedeutung von Advaita, „nicht dual“. Diese Höchste Wahrheit ist ein individuelles Wesen und in ihm existiert keine Dualität. Es gibt in ihm keinen Unterschied zwischen innen und aussen. Von ihm gehen alle Universen aus und zur gleichen Zeit sind sie auch in ihm.(Bhagavad gita 9.4)
Yasoda aber ist geblendet von ihrer elterlichen Liebe (yoga maya) und denkt, Krishna sei unter dem Einfluss von einem Geist und ruft Brahmanas, um diesen Geist auszutreiben und um Krishna zu beschützen. Sie denkt, dass aufgrund dieses Einflusses ihr Kind so unruhig sei und deshalb von Haus zu Haus schleiche und Butter stehle.
Krishna hat überall in Vrindavan Butter gestohlen…. Seine Mutter hat ihn einmal dabei erwischt. Krishna hat sein wunderbar schwarzes Gesicht noch voller Butter und ganz ängstlich sagt er: „O maiya, ich habe kein Butter gestohlen.“
Äusserlich sieht es so aus wie eine ganz gewöhnliche Alltagsszene in einem indischen Dorf, eine Erzählung, die da seit Generationen erzählt wird. Aber da Krishna die Höchste Wahrheit ist, und auf Erden spielt mit seinen ewig Beigesellten, ist darin die tiefste Weisheit des Vedanta verborgen.
Ist es Lüge, wenn Krishna sagt, er hätte kein Butter gestohlen? Alles kommt aus der Absoluten Wahrheit aus und ihr gehört alles. Man kann nichts stehlen, was einem selbst gehört. Krishna ist effektiv der alleinige Besitzer von allem (Bhagavad Gita 5.29)
Das ist Advaita, Nicht-Dualität- coincidentia oppositorum… Bei ihm fallen die Widersprüche zusammen. Die Lüge wird Wahrheit.
Krishna spielt mit unzähligen Kuhhirten in den Wäldern Vrindavans. Er spielt auf der Flöte und sein Wesen ist nur Lieblichkeit, Romantik und Schönheit. Alle Eigenschaften, die einen in der zeitweiligen Welt anziehen haben ihren Ursprung in der Wahrheit. Mit all seinen Kuhhirtenfreunden sitzt er nun im Wald von Vrindavan. Sie lachen miteinander und essen. Jeder von den Millionen von Freunden denkt, Sri Krishna sitze direkt vor ihm und er spreche direkt mit ihm und teile mit ihm die Nahrung. Ein Freund sagt zu Sri Krishna: „Bitte esse auch von diesem Samosa, welches meine Mutter wunderbar zubereitet hat“, und steckt es Sri Krishna in den Mund. Alle von den Kuhhirten im Kreis haben diese Erfahrung, direkt vor Sri Krishna zu sitzen, und von ihm angesprochen zu werden.
Das ist die Bedeutung von Advaita. Die Wahrheit ist unlimitiert und muss deshalb auch allgegenwärtig, alldurchdringend sein. Aber in seiner Unbegrenztheit ist sie auch individuell. Wenn sie nur überall wäre und nicht auch gleichzeitig lokalisiert, dann würde ihr einen Aspekt fehlen. Das Unbegrenzte muss also gleichzeitig beide Aspekte umfassen, sonst wäre es limitiert.
Die Erfahrung von Form in der physischen Welt ist immer nur an einem Ort, begrenzt und limitiert. Aber in der Transzendenz koexistieren gegensätzliche Eigenschaften. Sri Krishna sitzt mit unzähligen Freunden zusammen und jeder erfährt, dass er direkt neben ihm sitzt und eine intime Beziehung mit ihm hat. Das ist Advaita. Es gibt bei ihm nicht ein vorne oder hinten.
In den theologischen Systemen der Welt findet man immer die soziale Struktur des Patriarchates in das Gottesbild hinein gewoben („Gott ist der „Vater“). Es existiert so viel männliche Dominanz im Gebiet von Theologie. Aber warum sollte Gott männlich sein? Das Bhagavatam erklärt, dass die absolute Wahrheit auch weiblich ist. Mann-Frau-Aspekte sind ein fundamentales Prinzip, das fast die gesamte materielle Existenz durchdringt. Da diese Welt eine Spiegelung der Wirklichkeit ist, muss dieser Aspekt auch im ewigen transzendenten Ursprung seine Grundlage als Grundentwurf, als Archetyp, vorhanden sein.
Die Veden offenbaren Radha und Krishna als die eine Absolute Wahrheit, die sich ewig in zwei geteilt haben und den Austausch der Liebe selber erfahren. Diese Einheit wird Prema-bhakti genannt. Der Schimmer dieser Liebe-Erfahrung der nicht-dualen Welt ist auch hier erfahrbar als Bhakti Yoga, in der liebenden Hingabe zu Gott.
Wenn Krishna Vrindavan verlässt und Radhika in den Wäldern Vrindavans weinend zurückbleibt, dann erinnert sie sich an das wunderbare Lächeln Krishnas, wie er singt, wie er so bezaubernd auf der Flöte spielt und alle bewegenden und nicht bewegenden Lebewesen damit betört – Vögel und Bäume sind absorbiert in Trance.
In den Trennungsgefühlen absorbiert in die Erinnerung an Krishna spürt Radha plötzlich ganz sanfte Hände, die ihre Augen bedeckten. „Ist es Lalita? Oder Vishakha?“ „Nein, ich bin es!“ Und Sri Krishna steht direkt vor ihr. Radhika kann es noch nicht glauben und Krishna wischt ganz sanft mit seinem eigenen Pitambara (Krishnas gelben Dhoti) ihre Tränen ab. „Wieso weinst du? Ich werde dich nie verlassen.“ Im nächsten Moment verschwindet dieses Sphurti (Vision) und Radhika fällt im erneuten Trennungsschmerz bewusstlos zu Boden.
In dieser Welt sind wir mit einer Person oder getrennt von ihr. Trennung (vipralambha) und Begegnung (sambhoga) sind nie gleichzeitig. Aber in der transzendentalen Sphäre gibt es keine Dualität darin. So gibt es Begegnung in Trennung (prema-vivarta) und auch Trennung in der Begegnung (prema vaicittya). Das ist die Erfahrung von Advaita, Nicht-Dualität.
In dieser Welt ist Klang und Form voneinander verschieden. Durch Klang ist die Form nicht direkt erfahrbar. Aber Absoluter Klang, der Heilige Name Gottes, vermag alle Wahrnehmung zu vermitteln. Berührung, Geruch, Geschmack, Begegnung und Beziehung. Aus diesem Grund ist die Erfahrung der transzendentalen Wirklichkeit zugänglich in dieser Welt durch das Medium von spirituellem Klang. Durch Absorption in den Heiligen Namen erweitert sich dieser in die Form der Absoluten Wahrheit, in den Geruch des Absoluten, in das Flötenspiel des Höchsten. All das ist erfahrbar durch Nicht-dualen Klang – der Heilige Name Gottes. Das ist die Erfahrung von Advaita.
10. November 2012
Sport.... Eine Infragestellung moderner Religion
Was wir heute unter sportlicher Betätigung bezeichnen, kann grundlegend in zwei Kategorien unterteilt werden.
Das "rekreative Prinzip" beinhaltet den Bereich des zweckfreien, ungebundenen Spiels; es verwirklicht sich in der Freiheit vom Leistungszwang, bestimmt sich in der immer beschränkten zeitlichen Aufwendung; es versucht, Freude und Vergnügen zu gewinnen; es huldigt dem Überflüssigen; es gibt spontanen, schöpferischen Einfällen nach; es befreit sich von aufgezwungenen Regeln und Übungsweisen; es tendiert auf Erholung und Ausgleich und gewährt die Rückgewinnung der menschlichen Freiheit von belastenden Daseinsbedingungen. Das ist schon fast eine Annäherung an lila.
Dem wettkampfmässig betriebenen Sport (Breiten- und Spitzensport) liegt dagegen ein anderes "Prinzip" zugrunde, und zwar das "sportliche". Es beinhaltet das auf Rekord gerichtete Leistungstreben; es verwirklicht sich im Leistungsvergleich das Wettkampfes; es versucht, durch Rationalisierungsmassnahmen vielfacher Art die Effektivität der aufgewendeten Trainingszeit zu erhöhen; es ersinnt immer neue Methoden der Ökonomisierung von technischen Fertigkeiten oder taktischen Verhaltensformen; es drängt auf Automation von Bewegungsabläufen und unterscheidet sich nicht grundlegend von wirtschaftlichem Denken.
Dieser Art von medial vermitteltem Sport wird täglich von Milliarden Menschen Aufmerksamkeit geschenkt.
Die folgenden Gedanken richten sich nicht gegen die natürliche Neigung nach Bewegung und auch körperlicher Ertüchtigung, sondern möchten die Verkultisierung dessen in Frage stellen.
Dort, wo Themenbereiche, die einem lieb geworden sind, in Zweifel gesetzt werden, wohnt eine ganz interessante Entscheidungsfreiheit inne….
Im Olympiajahr 1932 brachte das Berliner Magazin "Der Querschnitt" ein Heft mit dem Thema "Fug und Unfug des Sports" heraus. Über die erste Seite zog sich eine Balkenüberschrift "Weltreligion des 20. Jahrhunderts". Der fiktive Rückblick aus einem Abstand von zehntausend Jahren beginnt mit der Aussage: Nicht das Christentum sei das beherrschende Religionssystem des euroamerikanischen Kulturkreises gewesen, sondern eine neue "Weltreligion" mit Namen "Sport". Diese neue religiöse Bewegung habe im 20. Jahrhundert die alte christliche Religion fast völlig verdrängt. Das Symbol des Kreuzes sei ersetzt worden durch das des Balls, dessen Kugelgestalt - als "Sinnbild des im Endlichen beschlossenen Unendlichen" - als höchste Form des Religiösen angesehen worden wäre. Die Kugelgestalt des Balles, des hauptsächlichsten Kultgegenstands, zeige den Diesseits-Charakter der "Sportreligion". Am Ende des Artikels wird die staunenerregende Popularität mancher "Priester und Priesterorden der Sportreligion" erwähnt, um die sich häufig hunderttausend "Gläubige" scharen.
Das Wort „Sport“ stammt aus dem lateinischen „deportare“ - das heisst: zerstreuen.
„De se porter“ im Französischen und im englischen „to disport“ heisst, „sich vergnügen und herumtollen“.
Die ganze Idee des Sportes ist mit der Industrialisierung entstanden, als Menschen komplett losgerissen wurden aus einem natürlichen (bäuerlichen) Umfeld, um in Fabriken in einer entstellten Atmosphäre zu arbeiten. Solchen Menschen musste man eine Kompensation anbieten, damit die Rebellionskraft sich nicht gegen die Arbeitsgeber richtet. Dazu diente Sport.
Karl Marx bezeichnete den Proletarier-Sport als Disziplinierungsmassnahme der Bourgeoisie.
Es war das Ablenkungsmanöver der Herrschenden, die Aufmerksamkeit auf das Banale zu lenken und darin Identität zu erlangen. Das hilft, die Unerträglichkeit des Alltags besser zu tolerieren. Marx nennt dann im Gegenzug die luxuriösen Sport-Clubs der Reichen „Herrschaftssymbole“.
Da die Idee des Sports, wie wir ihn heute kennen in der Zeit des Frühkapitalismus entstanden ist, sind darin auch noch dieselben archaischen Strukturen gespiegelt.
Industrialisierung und Sportwesen haben beide in England ihren Anfang gefunden. Der Sport orientierte sich mit seinem Leistungs, - Rekord, - und Konkurrenzprinzip an den gleichen Werten wie die Arbeitswelt. Zudem gab es in der Industrie wie auch im Sport eine Entwicklung zur Spezialisierung und Rationalisierung hin. Der Athlet ist für Pierre Coubertin, dem Gründer der olympischen Spiele der Gegenwart "eine Art Priester und Diener der Religion der Muskelkraft“. Die Maxime des Sportes verkündete er als "citius, altius, fortius - schneller, höher, stärker".
In vielerlei Hinsicht haben wir frühkapitalistische Strukturen überwunden, aber im Sport sind sie noch hängen geblieben. Da gilt noch immer das Aggressionsprinzip und die Idee zu gewinnen. Zudem huldigt man in sportlichen Arenen noch Werten wie nationalistischen Gefühlen, die man sonst als fragwürdig bezeichnet.
Heutzutage ist der Sport zu einer Ersatzreligion geworden. Der philosophische Begriff dafür heisst „Kryptoreligiosität“.
Das religiöse Erleben, welches sich nicht mehr auf Gott bezieht und sich in die Unendlichkeit seiner Schöpfung verstreut, ist Kryptoreligiosität. Religiöse Verhaltensweisen Sehnsüchte werden in den profanen Raum übertragen. Es ist anonyme Religiosität – ein Verhalten, das vom Wesen her weltlich ist, aber die darin wohnende Sehnsucht eine tief religiöse darstellt.
Auch die totalitären Ideologien des vergangenen Jahrhunderts – Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus und natürlich auch institutionalisierte Religion – haben sich in diesem Sinne als verdrehte Religionen erwiesen. Ihre Weltbilder beanspruchen, das wahre Wesen von Natur und Geschichte erkannt zu haben. Sie geben vor, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihnen die Geborgenheit in abgesicherten Strukturen. Sie kalkulieren mit der Angst vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehen, Ungewissheit. Sie wollen den Menschen von seiner schwierigen Freiheit, ein Einzelner zu sein, befreien und in ein Kollektiv eingliedern: Dort darf er sich zugehörig fühlen – im verfeindenden Gegensatz zu denen, die nicht dazugehören. Dieser Gegensatz ist von elementarer Bedeutung: Das Gefühl dieser Art Zugehörigkeit ist, genau gesehen, nichts anderes als die Abgrenzung von den Feinden und dem Fremden. Die totalitären Ideologien als Religionsersatz wollen den Menschen von der Freiheit, die immer auch das Gefühl des Fremdseins und der Einsamkeit einschliesst, befreien, da sie einen nicht die Erfahrung effektiver Aufgehobenheit vermitteln können.
Kryptoreligiosität vermag letztendlich die zutiefst empfundene Sinnleere nicht zu ersetzen. Der Mangel bleibt bestehen, so intensiv man ihn auch zu überspielen sucht.
Die post-kirchliche Gesellschaft verlegt Ekstase und Jubel ins Inhaltslose hinein. Sport wurde zum Surrogat (Ersatz) des Göttlichen. An die Stelle des Transzendenten wird nun eine Ode an den Staat gesungen (Nationalhymnen) und der siegreiche Sportler erhöht sein Vaterland und Rasse. In diesem Sinne kann man Sport auch als Paganismus, als heidnischer Ausdruck verstehen.
Carl Diem schrieb 1936 zu seiner Olympia-Inszenierung im Nazi-Deutschland:
"Über dem modernen Geschehen der Olympischen Spiele liegt der Zauberkreis des göttlich-Frommen. ... Was die Feier einleitet: Glockenklang - Fanfaren - festlicher Umzug - Chorgesang - Ansprache - Eid - Fahnen - Tauben - Lichtsymbol, das alles bedeutet Weihung, einem kirchlichen Fest gleichgeordnet, und über allem liegt die tiefe Ergriffenheit – mit einer religiösen Feierstunde durchaus vergleichbar."
Man verehrte nun nicht mehr Zeus, aber huldigt dem Staat.
Diem stand dann im März 1945 vor Teenagern auf dem Reichssportfeld in Berlin, um sie mit einer "flammenden Rede, in der so viel von Sparta und sportlicher Opferbereitschaft vorkam, zum siegreichen Endkampf gegen die deutschen Feinde" aufzufordern.
Im Sport haben sich nicht nur die fraglichen Werte seiner frühkapitalistischen Entstehungsgeschichte noch immer aufrechterhalten, sondern er hat in einer Zeit, in der der Grossteil der Menschen den Kontakt zu einer tragenden Spiritualität verloren haben, den Status der Ersatzreligion eingenommen. Es ist eine ursprünglich religiöse Sehnsucht, die sich im Sport profan (pro – vor, fanum – dem Tempel) ausdrückt.
Dabei werden aber im Sport auch fragwürdige Grundwerte zelebriert:
Das Denken, dass Aggression gegen andere und Härte gegen sich selbst zum Sieg führe, dass Erfolg glücklich mache dass es erstrebenswert sei, an der Spitze zu sein. „Wir haben gewonnen“ – gerade im Fussball, dem populärsten Massensport der Neuzeit, lebt ein grosses Identifikationspotenzial.
Sportanlässe sind also nicht einfach nur Zerstreuungs-Momente und Ablenkung, sondern eine symbolisch dramaturgische Darstellung des Lebens, in dem Körperlichkeit, Jugendlichkeit, Einsatzbereitschaft, Kampf, Ethnozentrismus (Patriotismus) und auch Nationalismus (nationales Trancegefühl) gedankenlos gelebt und ausgedrückt werden.
Die Schwachen, Alten, und Verlierer haben in diesem Denken nur noch Randpositionen inne.
Wenn man im Wikipedia irgendeine Stadt eingibt (zum Beispiel Leipzig), findet man unter „Persönlichkeiten“ eine Liste der bekannten Söhne und Töchter der Stadt. Es fällt einfach auf, dass die Menschen, die vor hundert Jahren einen Bekanntheitsgrad erlangten – das heisst, Dinge ausübten, die in den Augen der Masse erstrebenswert waren – Denker, Philosophen, Musiker oder Theologen waren. Betrachtet man die Liste aus der Neuzeit, sieht man, dass die Idole von heute zu über 80% nur noch Sportler sind.
Die Sehnsucht, die im Sport (und auch in der Popkultur)Ausdruck findet, ist eine säkularisierte Religion, die das Leben von vielen bestimmt und deren tägliches Erleben und Handeln prägt, sehr fragwürdige Werte vermittelt und zudem vernebelt, dass die Sehnsucht des Menschen auf etwas Absolutes und Unvergängliches hin zielt. Religion verweist den Menschen eigentlich auf Letztendliches. Das Substitut „Sport“ allerdings stärkt innerweltliche Werte und Identifikation.
Massenhaft besuchen Menschen medial aufbereitete Sportveranstaltungen.
Ein erster Verdacht, dass es sich bei Sportstadien um so etwas wie „heilige Räume“ handelt, ergibt sich aus den liturgischen Abläufen von Sportanlässen. Alles beginnt mit einer oft stundenlangen Wallfahrt, auf der schon Bekenntnisse gesungen und liturgische Gewänder getragen werden (Schals, Mützen, Trikots, Fahnen). Es ist eine Prozession.
Während der Veranstaltung hat man das Gefühl, am Nabel der Welt zu sein, dort, wo nun wirklich das Wesentliche geschieht. Man hat nun mit allen anderen Zuschauern einen gemeinsamen Mittelpunkt, auf den man sich ausrichtet.
Die Symbole und der Ritus schenken Verbundenheitsgefühl auf der aller äussersten Ebene.
Man ist gegliedert in homogenen Zuschauergruppen (Fan-Blocks) und dies erhöht das Mass einer emotionalen Beteiligung. Gefühle dürfen jetzt entfesselt werden. Man kann schreien und unterstützen – verehren. Der Besucher von sportlichen Grossveranstaltungen erlebt die Leidenschaft des Spektakels und er kann wieder einmal Mitgerissen werden.
In den Stadien gibt es responsorische Rufe, die durch den Liturgen, dem Stadions-Sprecher, angeleitet werden und chormässig wird gemeinsam gesungen. Es hat den Anschein eines Bekenntnisses, was der Fan da tut. Dass der Text sinnentleert ist, stört anscheinend nicht mehr. Das Erleben des Rausches, in der Gemeinschaft zu einem grösseren Ganzen dazuzugehören, gilt ihnen mehr als die stille Freude, sinnvoll zu leben.
Im den Kneipen wird das Sieges-Bier herumgereicht wie der Kelch beim Abendmahl.
Die Stadion-Gottesdienste werden von Radio- und Fernsehpredigern in die Wohnzimmer der breiten Masse übertragen. Ein echter Fan (von „fanum“ – heilig) kennt die Spielzeiten und stellt sich darauf ein. Dies strukturiert sein Jahr und erfüllt das, was der heilige Kirchkalender oder der Vaishnava-Kalender dem homo-religiosus schenkte. Das Wort „Olympiade“ bezeichnet den Zeitraum von vier Jahren hin zu den nächsten Spielen, einem nächsten Höhepunkt im Leben.
Der Fan beschäftigt sich mit seinen Idolen und mit den Biografien der grossen Spieler. Es gibt Wundergeschichten, Sündenböcke und Heiligenlegenden. Die Liturgie und die Mythen machen aus den Zuschauern eine Gemeinschaft – die Fan-Gemeinde.
Diese identifiziert sich mit ihren Stars und hält die Siege und Niederlagen von ihnen als ihre eigenen: „Wir haben gewonnen / verloren“.
Das Publikum ermöglicht erst die sportlichen Grossveranstaltungen. Hier geht es nicht nur um das Moment der "Identifikation" mit den sportlichen Helden. Unübersehbar ist das "Aussersichsein", das Aufgehen in der Masse der Gleichen.
Unbestreitbar macht sich allerdings der heutige Sport eine Tendenz in der modernen Gesellschaft zunutze: Es sind die diffusen Wünsche und Sehnsüchte der Menschen nach einem Sinn des Lebens, nach Identifikation mit "Helden", ja nach "Lichtgestalten" mit Quasi-Erlösungsfunktionen.
Im Sport erlebt man, dass auch unbedeutende Personen unabhängig von Geburt und Stand berühmt und zu Stars werden können. Genau dies ist ein ursprünglich religiöser Wert – der Mensch ist wertvoll unabhängig seines sozialen Status. Die Liebe Gottes zielt auf jeden gleich und darin gibt es keine Klasse von Privilegierten mehr.
Im Sport kennt man die Spannung, dass trotz bester Vorbereitung und finanziellem Vermögen nichts vollständig berechenbar und vorhersagbar ist. Die Faszination für Überraschung, des Unvorhersehbaren, dass der Mensch die Umstände nicht zu kontrollieren vermag, ist effektiv eine religiöse Grundhaltung.
Religion dient der Kontingenzbewältigung.
Kontingenz bezeichnet die Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Jeder Mensch macht die Erfahrung des Ungenügens, des Mangels, zu dem nicht nur Erfahrung von Leid, Krankheit, Alter, Schuld, Versagen und Tod gehören, sondern ein Wahrnehmen existenzieller Leere. Religion lehrt also ein erfolgreiches Umgehen mit diesem existenziellen Sinnvakuum durch Vermittlung einer Perspektive, die in allem innerweltlichen Erleben drin eine beständige Hoffnung vermittelt.
Kontingenz bedeutet, dass Menschen die Erfahrung machen, dass vieles in ihrem Leben nicht verfügbar ist, dass sie bestimmte Ereignisse und Erfahrungen nicht beeinflussen können. Kontingenzbewältigung meint dann, wie man mit diesem Gefühl des "Ausgeliefertseins" umgeht.
Religion schenkt eine tiefste Gelassenheit in allem, eine Substanz in allem, die einem selbst die Erfahrung des Unvermeidlichen an der Oberfläche als peripher erscheinen lässt.
Das bedeutet, Religion ist realitätstauglich.
Genau diese Substanz vermag Sport nicht zu vermitteln und verpasst ein transzendentes "Heilsziel". Es ist ein Sich-Arrangieren mit dem Sinndefizit.
Im "Drama des Wettkampfspiels" steht die symbolisierte Existenz auf dem Spiel: Es
geht um "Sieg oder Niederlage, um Gewinn oder Verlust, um Glück und Unglück, um
Erfolg oder Versagen. Es symbolisiert das eigentliche Leben und bietet eine verdichtete Spielsituation, die vom Publikum miterlebt wird und über einen Verweis-Charakter hinsichtlich menschlicher Ängste und Hoffnungen verfügt. Sport ist religions-analoges Verhalten, dem jedoch aller Inhalt und die wesenshafte Tiefe entzogen wurde.
Das Verhalten der Sportfans in der Verehrung ihrer Heroen des Feldes und die Verwerfung der 'Versager'; die kollektiven Erfahrungen der Angst vor dem Verlieren, das Bangen bis zum Schlusspfiff und schliesslich die ekstatischen Feiern der Erlösung aus dem Bannkreis der Ungewissheit durch den Sieg – das sind sicherlich religiöse Elemente, welche sogar in einer religiösen Sprache ausgedrückt werden. Doch der Inhalt ist banal und die tiefe Wirklichkeitsebene einer Transzendenz-Zuwendung wurde evakuiert. Deshalb ist Sport nur Ausdruck einer Ersatz-Religiosität.
Der Religion und dem Sport liegt die Sehnsucht nach Entgrenzung, Durchbrechung des Alltags und unbändige Lebens-Lust zu Grunde. Dem entsakralisierten Menschen fehlt das Grundgefühl des Aufgehobenseins und er fühlt sich letztlich einsam in einem riesigen leeren Raum, einer amorphen Masse, in welcher keine Orientierungspunkte mehr zu finden sind.
Die sportliche Erfahrung wird als meditative Übung der Selbstentgrenzung dargestellt: Selbstvergessenheit und Ichlosigkeit, eine distanzlose Einheit und ein Verschmelzen mit der umgebenden Lebenswelt, ektstatische Erfahrungen einer ozeanischen Geborgenheit.
Der "Kick", den die Protagonisten des Sports suchen, ist aber lediglich die Steigerung des individuellen "Spass-Motivs". Blosse Spannungsmaximierung und Lustbefriedigung im sportlichen Tun sowie das Auskosten körperbezogener Erlebnisintensitäten, das "Just-for-Fun" - das alles ist nur ein Anspruch der Sinne, aber noch kein "Sinnanspruch". Lebendige Substanz findet man in Sport nicht und wenn man dies dennoch erhofft, klafft einem die Leere nur noch gähnender entgegen.
Die religiösen "Gewänder", die religiösen "Symbole" und "Rituale dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim modernen Sport nicht um eine "Religion" im eigentlichen Sinn handelt. Diese Symbole und Rituale sind nur entliehen. Sport und die olympischen Spiele werden nicht mehr zur Ehre einer Gottheit veranstaltet. Religion wird vielmehr instrumentalisiert. Religiöse Gefühle und Energien der Menschen werden auf ein anderes Objekt gelenkt. Im Sport feiert der Mensch sich selbst. Eine Religion ohne Gott führt zur Vergötterung der Menschen und ihrer Leistung. Der klassische Ausdruck dafür ist die "Vergötzung".
Sport propagiert die "Gesundheit ist das höchste Gut“. Überhöhung und Huldigung der Körperlichkeit und dessen vermeintliche Unversehrtheit ist das Symptom einer Gesellschaft, die ihr Heil vorwiegend im Diesseits sucht.
Es ist die "Verweltlichung des Paradieses" und seine Verlegung in die irdische Existenz hinein.
Sport repräsentiert die säkular-profane Lebensform und zelebriert den Körperkult. Obwohl er religiöse Form angenommen hat und im modernen Menschen den Status innehat wie ihn vor einiger Zeit die Religion hatte, vermag er gerade auf die wesentlichen Fragestellungen keine Antworten zu geben. Die Absenz dieses Aspektes erweist deshalb die Sportreligion als Sinn-defizitär.
Wenn der säkulare Mensch sein religiöses Bedürfnis nach Gott unterdrückt und nur noch Kompensationen lebt, bleibt ganz tief die innere Unerfülltheit.
Wesentliches kann nicht mit Schatten ersetzt werden.
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