22. November 2012

Advaita

Sri Krishna vereint Einheit mit Vielfalt In unserer Zeit ist Advaita, die Lehre zur populären Weltanschauung erwachsen. Man kann dadurch auch die peinlich gewordene Frage nach Gott umgehen. Was bedeutet denn Advaita wirklich? Befreite Seelen, welche aus dem Entwicklungskreislauf (samsara) herausgehen, gehen nicht in Gott ein im Sinne einer Verschmelzung und überwinden dennoch alle Trennung zu Ihm, ohne jedoch ihre individuelle Identität aufzugeben. Diesen Zustand nennt man Liebe – der Austausch zwischen zwei ewig seienden Wesenheiten, Gott und der Seele. In der Liebe steht die individuelle Beziehung in einer schöpferischen Spannung mit dem ewigen Miteinanderverwobensein. 2 Arten des Einsseins: -vastu ekatva (Einheit in der Substanz, Einheit im Sein) völlige und endgültige und irreversible Aufhebung der Individualität, Verschmelzung mit dem Brahman. Das ist die Erfahrung von Friede. -dharma ekatva (Einheit in der Bestimmung, Einheit in der Ausrichtung) Wenn zwei ewige Wesen (Gott und die Seele) ewiglich konfliktlos in einem Austausch stehen. Es besteht aufgrund der Einheit keinerlei Spannung. Das ist die Erfahrung von Liebe. Wir leben in einer Welt der Konflikte und auch in spirituell-philosophischen Kreisen definiert man sich oft durch Abgrenzung. Ein schwacher Glaube braucht einen Feind. Die anfolgenden Gedanken mögen vielleicht zur Versöhnung wiedersprüchlicher Verständnissen beitragen. Wenn man glaubt, man müsse eine Wahl treffen zwischen Monismus (advaita) und Theismus (dvaita), dann befindet man sich bereits in der Dualität, welche nicht alles zu umfassen vermag. Die spirituelle Wirklichkeit kann beide Aspekte miteinander auf eine Weise verbinden, dass es als Hinweis auf eine ganz andere Wirklichkeit verstanden werden kann. In der Vielfalt dieser materiellen Welt gibt es nicht Koexistenz zwischen sich widersprechenden Gegensätzlichkeiten. Sie lösen sich auf. Sie hält diese Komplexität parallel existierender Wirklichkeiten nicht aus. Advaita bedeutet nicht exakt Monismus, aber „nicht-dual“. In dieser Welt erleben wir Einheit und Dualität. Advaita bedeutet: weder noch. Auf einer höheren Wirklichkeit fallen die Gegensätze in einer umfassenden Einheit neu zusammen (coincidentia oppositorum). Koexistenz, die sich nicht gegenseitig auflöst, sondern bereichert. Das ist die harmonisierende Qualität der absoluten Realität. Dann braucht man nicht irgendwelche Aussagen der heiligen Schriften zu betonen und andere zu bekämpfen nur um seine Weltanschauung zu rechtfertigen, sondern erkennt, dass in der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Aussagen auf eine höhere Harmonie hingewiesen wird. Diese Ganzheit ist für den Verstand nicht zu fassen. Wenn man das Heilige mit den eigenen Vorstellungen überlagert, resultiert nicht die Wahrheit daraus, sondern die eigene Vorstellung der Wahrheit. Die eigene relative Erfahrung des Absoluten darf nicht verabsolutiert werden, denn das wäre die Stagnation der inneren Entwicklung. Die Advaita-Erfahrung ist Vielheit ohne Konflikt, Einheit in der Zweiheit – das ist Liebe. Die Absolute Wahrheit ist advaya (SB 1.2.11), nicht dual, nicht zweihaft. Das bedeutet, dass es in ihr keine Dualität gibt, dass sie nur eins ist. Unio und comunio – Einheit und Beziehung zur gleichen Zeit gegenwärtig. Eine Einheit, die auch die Vielheit in sich integrieren kann, in der die Gegensätzlichkeiten sich ergänzen. Die andauernden Gegensätze in den Heiligen Texten sollen dem Studenten begreiflich machen, in unablässigem Bemühen vom blossen Schatten des Wortes zu dem wirklichen WORTE hinzufinden, in dem Wort und Idee und die Sache selbst (die durch das Wort ausgedrückt wird) eins sind. Das Aufleuchten dieser Erkenntnis im eigenen Innerern wird Spuhrti genannt (das Aufbrechen des Sinnes des Wortes). Die vorher einzig wahrnehmbare Schattenhülle des Wortes zieht sich zurück und das ewig göttliche Wort macht sich aus eigener Initiative in seinem wahren Wesen erkennbar. Es ist das Wort, das eine der Seinsweisen von Gott selbst ist (sabda-brahma), alles umfassend, erfüllend und umhüllend, der letzte Grund von allem. -Der von Zeit und Raum Unbegrenzte (Vibhu) -Er ist der Gestalthafte (murtiman) -Er ist unbefleckt durch Wirken (niralepa) -Er ist voller Tätigkeit (kriyamana) -Er ist von allen zu verehren (sarvaradhya) -Er ist ein einfacher Kuhirte in Vrindavan (Nandanandana) -Er steht jenseits von allem Denken (cintatita) - Er ist mit dem Auge der Bhakti wahrnehmbar - Er ist allwissend (sarvajna) - Er ist von Liebe überwältigt (mughdata) -Er ist allen gleichgesinnt (hat keinen Freund -Seine Geweihten sind ihm lieb. und auch keinen Feind (BG 9.29) Sie sind in Ihm und Er ist in Ihnen. (BG 9.29) -Er ist unbeweglich (anejat – Isopanisad 4) -Er ist schneller als der Geist (Isopanisad 4) -Er hat keine Hände und keine Füsse - Er hat eine unbegrenzte Anzahl (Svetasvatara Upanishad 3.19) Hände und Füsse (BG 13.14, Rg 10.90.1) -Er ist von allem ausserordentlich weit entfernt -Er ist allem ausserordentlich nahe (Isopanishad 5) (Isopanishad 5) -Er hat keinen Namen -Er hat eine unendliche Anzahl Namen Scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich und verweist auf eine umfassendere Wirklichkeit hin. Die Höchste Absolute Wahrheit hat transzendentale Form, Eigenschaften und Charakter. Da sie nichts zu tun braucht – da alles nur von seiner iccha Sakti, seiner Wunsch-Kraft geschieht – spielt sie. Dieses dramatische Liebesspiel des letztendlichen Bewusstseins nennt man lila. Die heiligen Schriften beschreiben dies, um uns die Faszination der Wirklichkeit zu vermitteln. Krishna hat Acintya Sakti. In dieser Welt schliessen sich Gegensätzlichkeiten aus. Man kann nicht zur gleichen Zeit der Grösste und der Kleinste sein. Aber in der Transzendenz ist es aufgrund seiner Acintya Sakti möglich, Gegensätze zu vereinen. Er ist zur gleichen Zeit alldurchdringende Energie wie auch Individualität. Krishna, die Absolute Wahrheit, spielt in Vrindavan wie ein Kind. Seine Freunde beklagen sich bei Yasoda, da Krishna Erde gegessen habe. Sie kommt und bezichtigt ihn. Er, der die Ursache von allem ist, der selbst von der Angst in personifizierter Form gefürchtet wird, ist nun wirklich ängstlich vor seiner Mutter. Mutter Yasoda will Sri Krishna von der Erde befreien und bittet ihn, seinen Mund zu öffnen – und erblickt in ihm Millionen von Universen, die gesamte Schöpfung. Das ist die Bedeutung von Advaita, „nicht dual“. Diese Höchste Wahrheit ist ein individuelles Wesen und in ihm existiert keine Dualität. Es gibt in ihm keinen Unterschied zwischen innen und aussen. Von ihm gehen alle Universen aus und zur gleichen Zeit sind sie auch in ihm.(Bhagavad gita 9.4) Yasoda aber ist geblendet von ihrer elterlichen Liebe (yoga maya) und denkt, Krishna sei unter dem Einfluss von einem Geist und ruft Brahmanas, um diesen Geist auszutreiben und um Krishna zu beschützen. Sie denkt, dass aufgrund dieses Einflusses ihr Kind so unruhig sei und deshalb von Haus zu Haus schleiche und Butter stehle. Krishna hat überall in Vrindavan Butter gestohlen…. Seine Mutter hat ihn einmal dabei erwischt. Krishna hat sein wunderbar schwarzes Gesicht noch voller Butter und ganz ängstlich sagt er: „O maiya, ich habe kein Butter gestohlen.“ Äusserlich sieht es so aus wie eine ganz gewöhnliche Alltagsszene in einem indischen Dorf, eine Erzählung, die da seit Generationen erzählt wird. Aber da Krishna die Höchste Wahrheit ist, und auf Erden spielt mit seinen ewig Beigesellten, ist darin die tiefste Weisheit des Vedanta verborgen. Ist es Lüge, wenn Krishna sagt, er hätte kein Butter gestohlen? Alles kommt aus der Absoluten Wahrheit aus und ihr gehört alles. Man kann nichts stehlen, was einem selbst gehört. Krishna ist effektiv der alleinige Besitzer von allem (Bhagavad Gita 5.29) Das ist Advaita, Nicht-Dualität- coincidentia oppositorum… Bei ihm fallen die Widersprüche zusammen. Die Lüge wird Wahrheit. Krishna spielt mit unzähligen Kuhhirten in den Wäldern Vrindavans. Er spielt auf der Flöte und sein Wesen ist nur Lieblichkeit, Romantik und Schönheit. Alle Eigenschaften, die einen in der zeitweiligen Welt anziehen haben ihren Ursprung in der Wahrheit. Mit all seinen Kuhhirtenfreunden sitzt er nun im Wald von Vrindavan. Sie lachen miteinander und essen. Jeder von den Millionen von Freunden denkt, Sri Krishna sitze direkt vor ihm und er spreche direkt mit ihm und teile mit ihm die Nahrung. Ein Freund sagt zu Sri Krishna: „Bitte esse auch von diesem Samosa, welches meine Mutter wunderbar zubereitet hat“, und steckt es Sri Krishna in den Mund. Alle von den Kuhhirten im Kreis haben diese Erfahrung, direkt vor Sri Krishna zu sitzen, und von ihm angesprochen zu werden. Das ist die Bedeutung von Advaita. Die Wahrheit ist unlimitiert und muss deshalb auch allgegenwärtig, alldurchdringend sein. Aber in seiner Unbegrenztheit ist sie auch individuell. Wenn sie nur überall wäre und nicht auch gleichzeitig lokalisiert, dann würde ihr einen Aspekt fehlen. Das Unbegrenzte muss also gleichzeitig beide Aspekte umfassen, sonst wäre es limitiert. Die Erfahrung von Form in der physischen Welt ist immer nur an einem Ort, begrenzt und limitiert. Aber in der Transzendenz koexistieren gegensätzliche Eigenschaften. Sri Krishna sitzt mit unzähligen Freunden zusammen und jeder erfährt, dass er direkt neben ihm sitzt und eine intime Beziehung mit ihm hat. Das ist Advaita. Es gibt bei ihm nicht ein vorne oder hinten. In den theologischen Systemen der Welt findet man immer die soziale Struktur des Patriarchates in das Gottesbild hinein gewoben („Gott ist der „Vater“). Es existiert so viel männliche Dominanz im Gebiet von Theologie. Aber warum sollte Gott männlich sein? Das Bhagavatam erklärt, dass die absolute Wahrheit auch weiblich ist. Mann-Frau-Aspekte sind ein fundamentales Prinzip, das fast die gesamte materielle Existenz durchdringt. Da diese Welt eine Spiegelung der Wirklichkeit ist, muss dieser Aspekt auch im ewigen transzendenten Ursprung seine Grundlage als Grundentwurf, als Archetyp, vorhanden sein. Die Veden offenbaren Radha und Krishna als die eine Absolute Wahrheit, die sich ewig in zwei geteilt haben und den Austausch der Liebe selber erfahren. Diese Einheit wird Prema-bhakti genannt. Der Schimmer dieser Liebe-Erfahrung der nicht-dualen Welt ist auch hier erfahrbar als Bhakti Yoga, in der liebenden Hingabe zu Gott. Wenn Krishna Vrindavan verlässt und Radhika in den Wäldern Vrindavans weinend zurückbleibt, dann erinnert sie sich an das wunderbare Lächeln Krishnas, wie er singt, wie er so bezaubernd auf der Flöte spielt und alle bewegenden und nicht bewegenden Lebewesen damit betört – Vögel und Bäume sind absorbiert in Trance. In den Trennungsgefühlen absorbiert in die Erinnerung an Krishna spürt Radha plötzlich ganz sanfte Hände, die ihre Augen bedeckten. „Ist es Lalita? Oder Vishakha?“ „Nein, ich bin es!“ Und Sri Krishna steht direkt vor ihr. Radhika kann es noch nicht glauben und Krishna wischt ganz sanft mit seinem eigenen Pitambara (Krishnas gelben Dhoti) ihre Tränen ab. „Wieso weinst du? Ich werde dich nie verlassen.“ Im nächsten Moment verschwindet dieses Sphurti (Vision) und Radhika fällt im erneuten Trennungsschmerz bewusstlos zu Boden. In dieser Welt sind wir mit einer Person oder getrennt von ihr. Trennung (vipralambha) und Begegnung (sambhoga) sind nie gleichzeitig. Aber in der transzendentalen Sphäre gibt es keine Dualität darin. So gibt es Begegnung in Trennung (prema-vivarta) und auch Trennung in der Begegnung (prema vaicittya). Das ist die Erfahrung von Advaita, Nicht-Dualität. In dieser Welt ist Klang und Form voneinander verschieden. Durch Klang ist die Form nicht direkt erfahrbar. Aber Absoluter Klang, der Heilige Name Gottes, vermag alle Wahrnehmung zu vermitteln. Berührung, Geruch, Geschmack, Begegnung und Beziehung. Aus diesem Grund ist die Erfahrung der transzendentalen Wirklichkeit zugänglich in dieser Welt durch das Medium von spirituellem Klang. Durch Absorption in den Heiligen Namen erweitert sich dieser in die Form der Absoluten Wahrheit, in den Geruch des Absoluten, in das Flötenspiel des Höchsten. All das ist erfahrbar durch Nicht-dualen Klang – der Heilige Name Gottes. Das ist die Erfahrung von Advaita.

10. November 2012

Sport.... Eine Infragestellung moderner Religion

Was wir heute unter sportlicher Betätigung bezeichnen, kann grundlegend in zwei Kategorien unterteilt werden. Das "rekreative Prinzip" beinhaltet den Bereich des zweckfreien, ungebundenen Spiels; es verwirklicht sich in der Freiheit vom Leistungszwang, bestimmt sich in der immer beschränkten zeitlichen Aufwendung; es versucht, Freude und Vergnügen zu gewinnen; es huldigt dem Überflüssigen; es gibt spontanen, schöpferischen Einfällen nach; es befreit sich von aufgezwungenen Regeln und Übungsweisen; es tendiert auf Erholung und Ausgleich und gewährt die Rückgewinnung der menschlichen Freiheit von belastenden Daseinsbedingungen. Das ist schon fast eine Annäherung an lila. Dem wettkampfmässig betriebenen Sport (Breiten- und Spitzensport) liegt dagegen ein anderes "Prinzip" zugrunde, und zwar das "sportliche". Es beinhaltet das auf Rekord gerichtete Leistungstreben; es verwirklicht sich im Leistungsvergleich das Wettkampfes; es versucht, durch Rationalisierungsmassnahmen vielfacher Art die Effektivität der aufgewendeten Trainingszeit zu erhöhen; es ersinnt immer neue Methoden der Ökonomisierung von technischen Fertigkeiten oder taktischen Verhaltensformen; es drängt auf Automation von Bewegungsabläufen und unterscheidet sich nicht grundlegend von wirtschaftlichem Denken. Dieser Art von medial vermitteltem Sport wird täglich von Milliarden Menschen Aufmerksamkeit geschenkt. Die folgenden Gedanken richten sich nicht gegen die natürliche Neigung nach Bewegung und auch körperlicher Ertüchtigung, sondern möchten die Verkultisierung dessen in Frage stellen. Dort, wo Themenbereiche, die einem lieb geworden sind, in Zweifel gesetzt werden, wohnt eine ganz interessante Entscheidungsfreiheit inne…. Im Olympiajahr 1932 brachte das Berliner Magazin "Der Querschnitt" ein Heft mit dem Thema "Fug und Unfug des Sports" heraus. Über die erste Seite zog sich eine Balkenüberschrift "Weltreligion des 20. Jahrhunderts". Der fiktive Rückblick aus einem Abstand von zehntausend Jahren beginnt mit der Aussage: Nicht das Christentum sei das beherrschende Religionssystem des euroamerikanischen Kulturkreises gewesen, sondern eine neue "Weltreligion" mit Namen "Sport". Diese neue religiöse Bewegung habe im 20. Jahrhundert die alte christliche Religion fast völlig verdrängt. Das Symbol des Kreuzes sei ersetzt worden durch das des Balls, dessen Kugelgestalt - als "Sinnbild des im Endlichen beschlossenen Unendlichen" - als höchste Form des Religiösen angesehen worden wäre. Die Kugelgestalt des Balles, des hauptsächlichsten Kultgegenstands, zeige den Diesseits-Charakter der "Sportreligion". Am Ende des Artikels wird die staunenerregende Popularität mancher "Priester und Priesterorden der Sportreligion" erwähnt, um die sich häufig hunderttausend "Gläubige" scharen. Das Wort „Sport“ stammt aus dem lateinischen „deportare“ - das heisst: zerstreuen. „De se porter“ im Französischen und im englischen „to disport“ heisst, „sich vergnügen und herumtollen“. Die ganze Idee des Sportes ist mit der Industrialisierung entstanden, als Menschen komplett losgerissen wurden aus einem natürlichen (bäuerlichen) Umfeld, um in Fabriken in einer entstellten Atmosphäre zu arbeiten. Solchen Menschen musste man eine Kompensation anbieten, damit die Rebellionskraft sich nicht gegen die Arbeitsgeber richtet. Dazu diente Sport. Karl Marx bezeichnete den Proletarier-Sport als Disziplinierungsmassnahme der Bourgeoisie. Es war das Ablenkungsmanöver der Herrschenden, die Aufmerksamkeit auf das Banale zu lenken und darin Identität zu erlangen. Das hilft, die Unerträglichkeit des Alltags besser zu tolerieren. Marx nennt dann im Gegenzug die luxuriösen Sport-Clubs der Reichen „Herrschaftssymbole“. Da die Idee des Sports, wie wir ihn heute kennen in der Zeit des Frühkapitalismus entstanden ist, sind darin auch noch dieselben archaischen Strukturen gespiegelt. Industrialisierung und Sportwesen haben beide in England ihren Anfang gefunden. Der Sport orientierte sich mit seinem Leistungs, - Rekord, - und Konkurrenzprinzip an den gleichen Werten wie die Arbeitswelt. Zudem gab es in der Industrie wie auch im Sport eine Entwicklung zur Spezialisierung und Rationalisierung hin. Der Athlet ist für Pierre Coubertin, dem Gründer der olympischen Spiele der Gegenwart "eine Art Priester und Diener der Religion der Muskelkraft“. Die Maxime des Sportes verkündete er als "citius, altius, fortius - schneller, höher, stärker". In vielerlei Hinsicht haben wir frühkapitalistische Strukturen überwunden, aber im Sport sind sie noch hängen geblieben. Da gilt noch immer das Aggressionsprinzip und die Idee zu gewinnen. Zudem huldigt man in sportlichen Arenen noch Werten wie nationalistischen Gefühlen, die man sonst als fragwürdig bezeichnet. Heutzutage ist der Sport zu einer Ersatzreligion geworden. Der philosophische Begriff dafür heisst „Kryptoreligiosität“. Das religiöse Erleben, welches sich nicht mehr auf Gott bezieht und sich in die Unendlichkeit seiner Schöpfung verstreut, ist Kryptoreligiosität. Religiöse Verhaltensweisen Sehnsüchte werden in den profanen Raum übertragen. Es ist anonyme Religiosität – ein Verhalten, das vom Wesen her weltlich ist, aber die darin wohnende Sehnsucht eine tief religiöse darstellt. Auch die totalitären Ideologien des vergangenen Jahrhunderts – Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus und natürlich auch institutionalisierte Religion – haben sich in diesem Sinne als verdrehte Religionen erwiesen. Ihre Weltbilder beanspruchen, das wahre Wesen von Natur und Geschichte erkannt zu haben. Sie geben vor, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihnen die Geborgenheit in abgesicherten Strukturen. Sie kalkulieren mit der Angst vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehen, Ungewissheit. Sie wollen den Menschen von seiner schwierigen Freiheit, ein Einzelner zu sein, befreien und in ein Kollektiv eingliedern: Dort darf er sich zugehörig fühlen – im verfeindenden Gegensatz zu denen, die nicht dazugehören. Dieser Gegensatz ist von elementarer Bedeutung: Das Gefühl dieser Art Zugehörigkeit ist, genau gesehen, nichts anderes als die Abgrenzung von den Feinden und dem Fremden. Die totalitären Ideologien als Religionsersatz wollen den Menschen von der Freiheit, die immer auch das Gefühl des Fremdseins und der Einsamkeit einschliesst, befreien, da sie einen nicht die Erfahrung effektiver Aufgehobenheit vermitteln können. Kryptoreligiosität vermag letztendlich die zutiefst empfundene Sinnleere nicht zu ersetzen. Der Mangel bleibt bestehen, so intensiv man ihn auch zu überspielen sucht. Die post-kirchliche Gesellschaft verlegt Ekstase und Jubel ins Inhaltslose hinein. Sport wurde zum Surrogat (Ersatz) des Göttlichen. An die Stelle des Transzendenten wird nun eine Ode an den Staat gesungen (Nationalhymnen) und der siegreiche Sportler erhöht sein Vaterland und Rasse. In diesem Sinne kann man Sport auch als Paganismus, als heidnischer Ausdruck verstehen. Carl Diem schrieb 1936 zu seiner Olympia-Inszenierung im Nazi-Deutschland: "Über dem modernen Geschehen der Olympischen Spiele liegt der Zauberkreis des göttlich-Frommen. ... Was die Feier einleitet: Glockenklang - Fanfaren - festlicher Umzug - Chorgesang - Ansprache - Eid - Fahnen - Tauben - Lichtsymbol, das alles bedeutet Weihung, einem kirchlichen Fest gleichgeordnet, und über allem liegt die tiefe Ergriffenheit – mit einer religiösen Feierstunde durchaus vergleichbar." Man verehrte nun nicht mehr Zeus, aber huldigt dem Staat. Diem stand dann im März 1945 vor Teenagern auf dem Reichssportfeld in Berlin, um sie mit einer "flammenden Rede, in der so viel von Sparta und sportlicher Opferbereitschaft vorkam, zum siegreichen Endkampf gegen die deutschen Feinde" aufzufordern. Im Sport haben sich nicht nur die fraglichen Werte seiner frühkapitalistischen Entstehungsgeschichte noch immer aufrechterhalten, sondern er hat in einer Zeit, in der der Grossteil der Menschen den Kontakt zu einer tragenden Spiritualität verloren haben, den Status der Ersatzreligion eingenommen. Es ist eine ursprünglich religiöse Sehnsucht, die sich im Sport profan (pro – vor, fanum – dem Tempel) ausdrückt. Dabei werden aber im Sport auch fragwürdige Grundwerte zelebriert: Das Denken, dass Aggression gegen andere und Härte gegen sich selbst zum Sieg führe, dass Erfolg glücklich mache dass es erstrebenswert sei, an der Spitze zu sein. „Wir haben gewonnen“ – gerade im Fussball, dem populärsten Massensport der Neuzeit, lebt ein grosses Identifikationspotenzial. Sportanlässe sind also nicht einfach nur Zerstreuungs-Momente und Ablenkung, sondern eine symbolisch dramaturgische Darstellung des Lebens, in dem Körperlichkeit, Jugendlichkeit, Einsatzbereitschaft, Kampf, Ethnozentrismus (Patriotismus) und auch Nationalismus (nationales Trancegefühl) gedankenlos gelebt und ausgedrückt werden. Die Schwachen, Alten, und Verlierer haben in diesem Denken nur noch Randpositionen inne. Wenn man im Wikipedia irgendeine Stadt eingibt (zum Beispiel Leipzig), findet man unter „Persönlichkeiten“ eine Liste der bekannten Söhne und Töchter der Stadt. Es fällt einfach auf, dass die Menschen, die vor hundert Jahren einen Bekanntheitsgrad erlangten – das heisst, Dinge ausübten, die in den Augen der Masse erstrebenswert waren – Denker, Philosophen, Musiker oder Theologen waren. Betrachtet man die Liste aus der Neuzeit, sieht man, dass die Idole von heute zu über 80% nur noch Sportler sind. Die Sehnsucht, die im Sport (und auch in der Popkultur)Ausdruck findet, ist eine säkularisierte Religion, die das Leben von vielen bestimmt und deren tägliches Erleben und Handeln prägt, sehr fragwürdige Werte vermittelt und zudem vernebelt, dass die Sehnsucht des Menschen auf etwas Absolutes und Unvergängliches hin zielt. Religion verweist den Menschen eigentlich auf Letztendliches. Das Substitut „Sport“ allerdings stärkt innerweltliche Werte und Identifikation. Massenhaft besuchen Menschen medial aufbereitete Sportveranstaltungen. Ein erster Verdacht, dass es sich bei Sportstadien um so etwas wie „heilige Räume“ handelt, ergibt sich aus den liturgischen Abläufen von Sportanlässen. Alles beginnt mit einer oft stundenlangen Wallfahrt, auf der schon Bekenntnisse gesungen und liturgische Gewänder getragen werden (Schals, Mützen, Trikots, Fahnen). Es ist eine Prozession. Während der Veranstaltung hat man das Gefühl, am Nabel der Welt zu sein, dort, wo nun wirklich das Wesentliche geschieht. Man hat nun mit allen anderen Zuschauern einen gemeinsamen Mittelpunkt, auf den man sich ausrichtet. Die Symbole und der Ritus schenken Verbundenheitsgefühl auf der aller äussersten Ebene. Man ist gegliedert in homogenen Zuschauergruppen (Fan-Blocks) und dies erhöht das Mass einer emotionalen Beteiligung. Gefühle dürfen jetzt entfesselt werden. Man kann schreien und unterstützen – verehren. Der Besucher von sportlichen Grossveranstaltungen erlebt die Leidenschaft des Spektakels und er kann wieder einmal Mitgerissen werden. In den Stadien gibt es responsorische Rufe, die durch den Liturgen, dem Stadions-Sprecher, angeleitet werden und chormässig wird gemeinsam gesungen. Es hat den Anschein eines Bekenntnisses, was der Fan da tut. Dass der Text sinnentleert ist, stört anscheinend nicht mehr. Das Erleben des Rausches, in der Gemeinschaft zu einem grösseren Ganzen dazuzugehören, gilt ihnen mehr als die stille Freude, sinnvoll zu leben. Im den Kneipen wird das Sieges-Bier herumgereicht wie der Kelch beim Abendmahl. Die Stadion-Gottesdienste werden von Radio- und Fernsehpredigern in die Wohnzimmer der breiten Masse übertragen. Ein echter Fan (von „fanum“ – heilig) kennt die Spielzeiten und stellt sich darauf ein. Dies strukturiert sein Jahr und erfüllt das, was der heilige Kirchkalender oder der Vaishnava-Kalender dem homo-religiosus schenkte. Das Wort „Olympiade“ bezeichnet den Zeitraum von vier Jahren hin zu den nächsten Spielen, einem nächsten Höhepunkt im Leben. Der Fan beschäftigt sich mit seinen Idolen und mit den Biografien der grossen Spieler. Es gibt Wundergeschichten, Sündenböcke und Heiligenlegenden. Die Liturgie und die Mythen machen aus den Zuschauern eine Gemeinschaft – die Fan-Gemeinde. Diese identifiziert sich mit ihren Stars und hält die Siege und Niederlagen von ihnen als ihre eigenen: „Wir haben gewonnen / verloren“. Das Publikum ermöglicht erst die sportlichen Grossveranstaltungen. Hier geht es nicht nur um das Moment der "Identifikation" mit den sportlichen Helden. Unübersehbar ist das "Aussersichsein", das Aufgehen in der Masse der Gleichen. Unbestreitbar macht sich allerdings der heutige Sport eine Tendenz in der modernen Gesellschaft zunutze: Es sind die diffusen Wünsche und Sehnsüchte der Menschen nach einem Sinn des Lebens, nach Identifikation mit "Helden", ja nach "Lichtgestalten" mit Quasi-Erlösungsfunktionen. Im Sport erlebt man, dass auch unbedeutende Personen unabhängig von Geburt und Stand berühmt und zu Stars werden können. Genau dies ist ein ursprünglich religiöser Wert – der Mensch ist wertvoll unabhängig seines sozialen Status. Die Liebe Gottes zielt auf jeden gleich und darin gibt es keine Klasse von Privilegierten mehr. Im Sport kennt man die Spannung, dass trotz bester Vorbereitung und finanziellem Vermögen nichts vollständig berechenbar und vorhersagbar ist. Die Faszination für Überraschung, des Unvorhersehbaren, dass der Mensch die Umstände nicht zu kontrollieren vermag, ist effektiv eine religiöse Grundhaltung. Religion dient der Kontingenzbewältigung. Kontingenz bezeichnet die Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Jeder Mensch macht die Erfahrung des Ungenügens, des Mangels, zu dem nicht nur Erfahrung von Leid, Krankheit, Alter, Schuld, Versagen und Tod gehören, sondern ein Wahrnehmen existenzieller Leere. Religion lehrt also ein erfolgreiches Umgehen mit diesem existenziellen Sinnvakuum durch Vermittlung einer Perspektive, die in allem innerweltlichen Erleben drin eine beständige Hoffnung vermittelt. Kontingenz bedeutet, dass Menschen die Erfahrung machen, dass vieles in ihrem Leben nicht verfügbar ist, dass sie bestimmte Ereignisse und Erfahrungen nicht beeinflussen können. Kontingenzbewältigung meint dann, wie man mit diesem Gefühl des "Ausgeliefertseins" umgeht. Religion schenkt eine tiefste Gelassenheit in allem, eine Substanz in allem, die einem selbst die Erfahrung des Unvermeidlichen an der Oberfläche als peripher erscheinen lässt. Das bedeutet, Religion ist realitätstauglich. Genau diese Substanz vermag Sport nicht zu vermitteln und verpasst ein transzendentes "Heilsziel". Es ist ein Sich-Arrangieren mit dem Sinndefizit. Im "Drama des Wettkampfspiels" steht die symbolisierte Existenz auf dem Spiel: Es geht um "Sieg oder Niederlage, um Gewinn oder Verlust, um Glück und Unglück, um Erfolg oder Versagen. Es symbolisiert das eigentliche Leben und bietet eine verdichtete Spielsituation, die vom Publikum miterlebt wird und über einen Verweis-Charakter hinsichtlich menschlicher Ängste und Hoffnungen verfügt. Sport ist religions-analoges Verhalten, dem jedoch aller Inhalt und die wesenshafte Tiefe entzogen wurde. Das Verhalten der Sportfans in der Verehrung ihrer Heroen des Feldes und die Verwerfung der 'Versager'; die kollektiven Erfahrungen der Angst vor dem Verlieren, das Bangen bis zum Schlusspfiff und schliesslich die ekstatischen Feiern der Erlösung aus dem Bannkreis der Ungewissheit durch den Sieg – das sind sicherlich religiöse Elemente, welche sogar in einer religiösen Sprache ausgedrückt werden. Doch der Inhalt ist banal und die tiefe Wirklichkeitsebene einer Transzendenz-Zuwendung wurde evakuiert. Deshalb ist Sport nur Ausdruck einer Ersatz-Religiosität. Der Religion und dem Sport liegt die Sehnsucht nach Entgrenzung, Durchbrechung des Alltags und unbändige Lebens-Lust zu Grunde. Dem entsakralisierten Menschen fehlt das Grundgefühl des Aufgehobenseins und er fühlt sich letztlich einsam in einem riesigen leeren Raum, einer amorphen Masse, in welcher keine Orientierungspunkte mehr zu finden sind. Die sportliche Erfahrung wird als meditative Übung der Selbstentgrenzung dargestellt: Selbstvergessenheit und Ichlosigkeit, eine distanzlose Einheit und ein Verschmelzen mit der umgebenden Lebenswelt, ektstatische Erfahrungen einer ozeanischen Geborgenheit. Der "Kick", den die Protagonisten des Sports suchen, ist aber lediglich die Steigerung des individuellen "Spass-Motivs". Blosse Spannungsmaximierung und Lustbefriedigung im sportlichen Tun sowie das Auskosten körperbezogener Erlebnisintensitäten, das "Just-for-Fun" - das alles ist nur ein Anspruch der Sinne, aber noch kein "Sinnanspruch". Lebendige Substanz findet man in Sport nicht und wenn man dies dennoch erhofft, klafft einem die Leere nur noch gähnender entgegen. Die religiösen "Gewänder", die religiösen "Symbole" und "Rituale dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim modernen Sport nicht um eine "Religion" im eigentlichen Sinn handelt. Diese Symbole und Rituale sind nur entliehen. Sport und die olympischen Spiele werden nicht mehr zur Ehre einer Gottheit veranstaltet. Religion wird vielmehr instrumentalisiert. Religiöse Gefühle und Energien der Menschen werden auf ein anderes Objekt gelenkt. Im Sport feiert der Mensch sich selbst. Eine Religion ohne Gott führt zur Vergötterung der Menschen und ihrer Leistung. Der klassische Ausdruck dafür ist die "Vergötzung". Sport propagiert die "Gesundheit ist das höchste Gut“. Überhöhung und Huldigung der Körperlichkeit und dessen vermeintliche Unversehrtheit ist das Symptom einer Gesellschaft, die ihr Heil vorwiegend im Diesseits sucht. Es ist die "Verweltlichung des Paradieses" und seine Verlegung in die irdische Existenz hinein. Sport repräsentiert die säkular-profane Lebensform und zelebriert den Körperkult. Obwohl er religiöse Form angenommen hat und im modernen Menschen den Status innehat wie ihn vor einiger Zeit die Religion hatte, vermag er gerade auf die wesentlichen Fragestellungen keine Antworten zu geben. Die Absenz dieses Aspektes erweist deshalb die Sportreligion als Sinn-defizitär. Wenn der säkulare Mensch sein religiöses Bedürfnis nach Gott unterdrückt und nur noch Kompensationen lebt, bleibt ganz tief die innere Unerfülltheit. Wesentliches kann nicht mit Schatten ersetzt werden.

6. April 2012

Zu-Ende-Denken

Am Anfang des Bhagavatam finden wir eine spannende Szene, in der Dharma, die Verkörperung der Religion, in der Form eines Stieres blutend am Boden liegt. Gewaltsam wurden drei seiner Beine abgeschlagen (im Zeitalter des Kali werden dharmische Prinzipien zerrüttet).
König Pariksit, in dessen Königreich bis anhin noch keine Schmerzensträne vergossen wurde, kam erschüttert dazu, und sah ein niederträchtiger Mensch (Kali in personifizierter Form) mit einer blutigen Axt daneben stehen.
Pariksit fragt den Stier, wer diese Greueltat verübt hätte, und Dharma antwortet ihm:

"Es ist sehr schwierig festzustellen, wer mir dieses Leid gegeben hat."
"Einige würden sagen, das eigene Selbst sei Ursache von Glück und Leid, andere betrachten übermenschliche Wesen, karma, oder sogar den Zufall für verantwortlich." (SB 1.17.18-19)

Das ist die Art und Weise, wie Dharma, das Weltengesetz, die Religion in personifizierter Form, spricht.
Es bleibt nicht stehen beim Augenscheinlichen (nämlich dass ihm Kali die Beine abgeschnitten hat), sondern betont, dass hinter dem Offen-Sichtlichen jeweils tiefere Ursachen verborgen liegen.

Wenn wir den Pfad des Dharma beschreiten wollen, so ist das "Zu-Ende-Denken", das nicht an den äussersten Geschehnissen stehen zu bleiben, sondern dahinter zu gelangen, von grösster Wichtigkeit. Es lehrt uns, nicht einfach an den Geschehnissen im eigenen Leben und den Phänomenen (spätlat. phaenomenon= Lufterscheinung) der Welt zu kleben zu bleiben, und sie dann noch in das Gut/Schlecht-Muster des eigenen Geistes einzuordnen. Dharma beurteilt nicht die Momentaufnahme einer Situation, sondern nimmt sie nur still wahr, ohne von alten Mustern gezwungen darauf zu reagieren. Das gibt erst einmal den inneren Raum und die Freiheit, herauszuspüren, was für wertvolle Geschenke Gottes in den Lebenssituationen versteckt liegen, und was für tiefere Gemütsstimmungen ihnen zu Grunde liegen, die einen wieder auf seine letztliche Beziehung zu Gott hinweisen.

Wenn in der alten christlichen Tradition der Wüstenväter von apatheia, dem bewältigen der Leidenschaften, gesprochen wird, dann war ihr Augenmerk nicht primär nur auf die Sinneskontrolle gerichtet, sondern vielmehr auf innere Aufrichtigkeit und Herzenstreue zu Gott. Denn diese freudvolle positive Hinwendung auf das letztendliche „Du“ Gottes bewirkt erst die Transformation des Herzens (Bhagavad Gita 2.59). Die Verneinung und die Verdrängung instinktiver Kräfte führen nicht in spirituelle Freiheit, sondern in die Neurose und Zerrissenheit.
Patanjali beschreibt in seinem Grundlagenwerk des Yoga, dem Patanjali-Yoga-Sutra, das Zu-Ende-Denken aller Sehnsüchte als die Entspannung alles Leiden (PYS, 2.10).

Das Zu-Ende-Denken aller Antriebe enthebt einen von dem religiösen Dilemma. Auf der einen Seite erlebt der Mensch Grundantriebe, die ihn zum Leben hin einladen (Freude, Liebe, Sexualität, Weltumarmung, Besitzstreben) und auf der anderen Seite hat die Religion diese als gefährlich und bedrohend identifiziert und in recht rigide moralische Einmantelungen gehüllt.
Wir haben erlebt, wie Religion lebensfeindlich und lebenstötend wirken kann und haben uns von ihren Einschüchterungen und krankmachenden Einschränkungen distanziert.
Die moderne säkulare Gesellschaft hat sich dann gänzlich den Antrieben gewidmet und die gähnende Leere einer Kultur der Sinnesstimulation erfahren müssen, die Befriedigung für Zufriedenheit gehalten hatte.
Das Zu-Ende-Denken aller Tendenzen würgt nicht einfach nur den Impuls ab, sondern lässt in zu, lädt ihn ein, nimmt ihn an, lebt ihn aber nicht einfach nur aus, sondern fragt ihn, wohin er einen denn wirklich führen und worauf er einen verweisen möchte. Er ist ein Hinweis auf ein tieferes in der Seele inhärent angelegtes Grundbedürfnis.
Jeder Mensch in dieser Welt strebt nach Güter-Ansammlung. Nun kommt die Religion als moralisches Regulativ und verurteilt diese selbstsüchtige Tendenz. Schon ist man im Widerstreit mit der aufgesetzten Einschränkung der heiligen Tradition und dem Impuls aus der eigenen Psyche.
Dieser Zwiespalt hat dann einerseits in die religiöse Heuchelei geführt, wo man zwar äusserlich der Erwartung folgt, innerlich sich aber davon löst und ein gänzlich anderes Leben führt. Andererseits war der Druck moralisch / religiöser Erwartung für viele zu anstrengend, sodass sie sich von dem religiösen System loslösten. Das war anfänglich sicherlich erleichternd, doch man merkte auch, dass man sich damit von einem letztlich gegebenen Sinnhorizont einer transzendenten Weltanschauung isoliert hatte.
Das Zu-Ende-Denken lädt den Antrieb nach Besitz ein, und würgt ihn moralisch nicht gerade ab durch heilige Formeln („du sollst einfach leben“). Aber man agiert ihn auch nicht aus, sondern kehrt in sich und fragt ihn, worauf er einen denn verweisen möchte.
Im Yoga wird gelehrt, dass die Tendenz nach Besitz eigentlich Ruhe und Stille sucht, denn man glaubt, wenn man sich endlich einmal alles besorgt hätte, dass dann Stille einkehren würde. Natürlich tritt das nie ein. Das Streben nach Besitz besetzt einen noch mehr und Bedürfnisse können nie gestillt werden (Bhagavad Gita 3.39).
Im Zu-Ende-Denken der Sehnsucht aber erkennt man, dass man ja eigentlich etwas gänzlich anderes sucht und diese Erkenntnis erübrigt das Kompensations-Streben auf der weltlichen Ebene.

Das Zu-Ende-Denken bedeutet, dass man sich in die drei menschlichen Grund-Nöte hineinfallen lässt, und von ihnen auf etwas Grundsätzlicheres verwiesen wird:

1. Angst vor der Zerstörung
Ein Grossteil menschlicher Energie wird aufgewendet, um sich abzugrenzen gegen den Fluss der Zeit, welcher alles verschlingen will. Aber anstatt sich ein Leben lang gegen jeglichen Zerfall zu stemmen, lädt das Zu-Ende-Denken ein, sich dieser Angst zu stellen und zu schauen, worauf sie einen verweisen möchte.
Sicherheit in der äusseren Welt sucht Stille und die Aufgehobenheit der Ewigkeit. Dann wird einen diese Angst auf die eigene ewige Identität verweisen.

2. Verzweiflung vor dem Absurden
Niemand will einfach nur für nichts gelebt haben. So generiert man sich seinen selbstgemachten Sinn.
Es ist aber nicht die eigene Aufgabe, die natürlich fliessenden Umstände der Umgebung zu bewerten – sie abzuwerten oder aufzuwerten und darin Minderwert und Stolz zu erleben. In der Haltung des Ergebens zu Gott erkennt man den inhärenten Sinn von allem in allem durchleuchtend und das Zerrbild abgetrennter Wahrnehmung ist entschwunden.
Man glaubte als Mensch lange Zeit, dass es die eigene Aufgabe sei, den Mitwesen, der Welt, der Umgebung, dem Leben und Gott einen Wert zuzuschreiben, indem man sie be-wertet. Man ist wie besetzt von der Idee, allem einen Wert anzuheften, da es sonst keinen hätte.
Das Leben hat aber einen Wert in sich und man muss nichts tun, um ihm aufgesetzt eine Bedeutung zuzuschreiben. Macht und Einfluss suchten Sinn. Dieser entsteht nicht künstlich durch Beruf, Karriere oder innerweltlich erworbene Scheinsicherheiten, sondern ist gegeben als Existenz meiner ewigen Seele und ihrer angelegten Beziehung zu Gott.
Im Zu-Ende-Denken lässt man sich in diese Verzweiflung hineinfallen und von ihr zum inhärenten bereits bestehenden Sinn hinleiten – der Absicht Gottes in allem.

3. Trostlosigkeit der Einsamkeit
Um dieser zu entgehen, bindet man sich an Menschen in der Hoffnung, nicht verlassen zu werden. Man zelebriert das kleine Wohlfühlglück. Im eng abgesteckten Garten des eigenen Ich existiert aber nur Unerfülltheit. Das Zu-Ende-Denken möchte sich ganz stellen und sich in die Grundnot hineinfallen lassen. Dann erahnt man ein inneres unzerstörbares Glück. Ein Glück, aus dem man als Seele besteht und das nicht von Spass und Schmerzen beeinflusst wird.
Anstatt sich Leben für Leben nur gegen die Grundnöte zu wehren und mit unzähligen Lebensarrangierungen sich ihnen entgegenzustellen, lädt die Praxis des Zu-Ende-Denkens ein, sie genauer zu betrachten und sich von ihnen auf die eigene Ewigkeit (sat), die eigene Bedeutung und Sinnhaftigkeit (cit) und die inhärente in einem angelegte Glückseligkeit (ananda) verweisen zu lassen.

Ich möchte diese wichtige spirituelle Praxis des "Zu-Ende-denkens" an einigen Beispielen skizzieren.

Zweifel:
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Wenn ich alleine beim Rezitieren der Heiligen Gottesnamen verweile, dann kommen manchmal Zweifel:
"Stimmt denn das alles, was ich mir von Krishna denke, oder ist es nur Hoffnung, Projektion, Einbildung?
Stelle ich mir das so vor, weil es schön ist, weil ich damit besser leben kann, und weil ich sonst keine Aufgabe und Lebensinhalt mehr hätte?

Wenn Zweifel auftauchen, so müssen sie nicht gerade geklärt und beantwortet werden. Nur die religiöse Unsicherheit will vorschnell immer Lösungen und begnügt sich alsdann mit vereinfachten Lösungen. Echtes Vertrauen soll so stark sein, dass es auch die grössten In-Frage-Stellungen und Zweifel aushalten kann und darf. Wahrheit scheut genauere Untersuchung nicht, sondern setzt sich ihr aus.

"Ja, es kann sein, dass alles nur Einbildung ist, dass alle religiöse Literatur der Ausweichversuch vor dem Nichts ist, die Beruhigung des Menschen, ein gebastelter menschlicher Erklärungsversuch, einer sinnlosen Existenz eine Bedeutung zuzuschreiben."

Im Zulassen wird auch der Zweifel kritisch untersucht und relativiert. Oft aber gehen wir mit den Infragestellungen anders um: sie werden sofort verdrängt, denn man möchte ja glauben und es für wahr haben. Sicherheit ist einem oft wichtiger als Wahrheit. Damit verdrängt man den Zweifel und die eigene Skepsis in das Unbewusste, und spaltet sich somit ab von einem Teil des eigenen Selbst.

Doch wenn alle Ungewissheit und Zerwürfnisse eingeladen werden, selbst die existentiellsten Zweifel, und zu Ende gedacht werden, erkennt man, dass man eigentlich tiefere Erkenntnis als nur oberflächliche Bekenntnisse sucht. Der Zweifel treibt einen in die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Göttlichen.

Dieser Ausschluss des Zweifels aus dem Feld des Heiligen führt zu einer Verkrampftheit in religiösen Anschauungen. Und weil aufgeweckte Menschen unserer Zeit die blinde Glaubenslast nicht mehr tragen möchten, hat es sie in die religiöse Gleichgültigkeit getrieben. Wenn die Zweifel nicht willkommen waren, dann nimmt man halt Abstand von dem Bereich, welchen man so sakrosankt und erhaben nicht sehen konnte.
Nachdenkverbote und Nichteinladung von kritischem Hinterfragen sind nicht vereinbar mit der radikalen Wahrheitssuche.

Im Willkommenheissen sämtlicher Zweifel und durch die vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen taucht eine innere Gewissheit auf, welche viel substanzieller ist als übernommene Glaubensgerüste.
Der Zweifel hat einen in die Vertiefung geführt.
Man beginnt wahrzuhaben, dass alle Heiligen nicht einfach Illusionen nachgelaufen sind, dass alle Kultur nicht nur Nervenberuhigung ist, und dass alles "Leben" nicht einfach ein kurzes Aufschreien in ein ewiges Nichts ist.
Gottes lenkende Hand, das heisst inhärenter Sinn, wird erkennbar.

Wenn man aber die Zweifel, selbst die Option der völligen Absurdität zulässt, beginnt sich nicht nur diese innere Gewissheit zu manifestieren, sondern dann entscheidet man sich ganz bewusst für die Ergebenheit zu Gott, für den Seva zu Radha Krishna.
„Ich möchte die Karte meines Lebens auf selbstverwirklichte Heilige setzen, die die Wahrheit gesehen haben, und nicht auf Skeptiker, die in der Absurdität des Daseins eine Lebensphilosophie finden.“

Dann ist einem der Zweifel zu einer Erneuerung seines Glaubensverständnisses geworden; er hält einen auf der Suche nach dem wahren Gott lebendig, und hilft einem, sich nicht vorschnell mit seiner Beziehung zu Gott zufrieden zu geben, sondern ein wirklicher Suchender zu bleiben.

Angst:
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Oft bitten wir Gott darum, uns von unserer Angst zu befreien. Doch genau in diesem Gebet möchte man der Begegnung mit seiner Angst aus dem Weg gehen. Man will einfach eine Abkürzung bekommen, sodass man sich nicht mit seiner Ängstlichkeit auseinander zu setzen braucht. Eigentlich instrumentalisiert man damit Gott, da man ihn wie ein Wundermittel einsetzen möchte. Wenn alles andere nicht mehr funktioniert, und alle scheinbaren Sicherheiten sich aufgelöst haben, wendet man sich einfach Gott zu, der den alten Zustand wiederherstellen soll.
Je mehr wir aber bitten, von der Angst befreit zu werden, desto mehr sind wir darauf fixiert. sada tad bhava bhavitah (Bhagavad Gita 8.6) „Die innere Ausrichtung wird zu einer Realität in dem Masse, wie man ihr die Aufmerksamkeit schenkt.“

Das "Zu-Ende-denken" bedeutet, dass man die Angst zulässt und sie sich in aller Ruhe erlaubt. Somit wird sie an das Tageslicht seines Bewusstseins befördert. All diese dunklen Wesensanteile haben die inhärente Eigenschaft, dass sie alleine dadurch bereits einschrumpfen, und meist unbedeutend klein werden.

Das Zulassen lässt einen erkennen, dass man Angst hat vor dem Versagen, Angst, sich vor anderen zu blamieren, und Angst vor Krankheit und Sterben und vor allem vor dem Schmerz, der in ihnen wohnt.
Man rennt immer weg vor dem Angstgebilde und glaubt, dass es sehr es sehr bedrohend sei.

Im Zulassen und Einladen erlaubt man es sich, sich vorzustellen, wie es denn wäre, wenn man sich blamieren würde. Man erlebt oft eine Erleichterung, wenn nur schon in der Vorstellung der Stolz gebrochen wird, da man erkennt, dass man sich ja vor niemandem zu beweisen braucht. Da Krishna das eigene heimliche Scheitern ja längst schon vor einem selber kennt, braucht man vor ihm auch nichts zu verbergen. Und vor allem: Bei ihm braucht man sich nicht zu fürchten, dass er einen aufgrund der Kleinheit und Unfähigkeit und vielleicht sogar wegen der eigenen Unattraktivität verlassen würde. Er wartet nur darauf, bis dass man es vor ihm nicht mehr verheimlichen will, und die Kapitulation ihm zu Füssen legt. Daraus erfolgt nicht die Ausbeutung, wie wir es von dieser Welt gewohnt sind, sondern die zärtlichste Umarmung. Das ist die erlebte Erleichterung, wenn man sich von allen Selbstbildern entblösst (trnad api sunicena...).

Im Zulassen erlaube ich es mir, mir vorzustellen, wie es denn wäre, wenn ich durch einen Unfall umkommen würde.
In dem ich in das Gefühl der Angst hineingehe und durch die Emotion hindurchgehe - auf Krishna hin, kann ich sie relativieren. Man akzeptiert, was in einem ist, ohne gerade in den Kampf gegen die Emotion ziehen zu müssen, und legt sie ganz nüchtern Krishna dar. Um diese Öffnung Krishna gegenüber geht es doch in der gesamten Gebetspraxis, und nicht um unsere Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit, die sowieso nie gesichert ist.
Dann führt mich diese Emotion sogar auf Gott hin. Ich spüre, wie sehr ich ohne die Verbindung zu Krishna auf einem ganz dünnen Eis gehe....

Ich habe Angst vor der Krankheit, obwohl ich natürlich keine Garantie habe, dass mich selbst das frömmste Leben und alle Gebete davor bewahren würden.

Wir glauben, wir seien so beschäftigt, unsere kleine Welt gegen das Damokles Schwert des drohenden Verlustes zu verteidigen. So versucht man, sein kleines Reich und sein Glück, seine Familie, Gesundheit und Besitz zu verteidigen - mit viel Hoffnung. Und das Schlimmste ist, dass man im tiefsten Ort in einem weiss, dass man den drohenden Verlust gar nicht verhindern kann, und dass der Kampf vergeblich ist. Es ist nur ein Herauszögern der Konfrontation mit dem Unvermeidlichen: dass man sowieso alles verlieren wird.

So geht man in der Vorstellung in die Krankheit hinein und begegnet in dieser Krankheit seinem eigentlichsten Gegenüber. Gerade die Ohnmacht, die man gegenüber seiner Angst und gegenüber einer eventuellen Krankheit und körperlichem Versagen spürt, kann einen innerlich aufbrechen.

Im "Zu-Ende-Denken" kämpft man nicht gegen die Angst, denn das würde nur dahinzuführen, dass ich vermehrt mit ihr beschäftigt bin (dhyayanto..sangas tesupajayate- Bhagavad Gita 2.62). Man lässt sie zu, ohne sie in unsere Sympathie/Antipathie Muster einordnen zu müssen, und ohne die vorbeiziehenden Phänomene gleich zu werten (dies ist, was Krishna "titiksavata" nennt – Bhagavad Gita 2.14). Man erhält so einen inneren Raum, in welchem man zu erspüren vermag, auf was einen die Angst denn eigentlich hinweisen möchte. Sie ist das Symptom dafür, dass man sein Selbstgefühl ins Unwirkliche verlagert hat. Jede Selbstplatzierung ausserhalb der Seele wird Angst gebären. Somit geht es nicht darum, kleine Symptomkorrekturen an der Oberfläche des Lebens zu tätigen, sondern sich wirklich in seiner eigentlichen Identität zu verankern. Das Vergessen seiner selbst erzeugte die Ersatzidentität in der Materie, und diese ist ständig bedroht und somit ist Angst die ständige Erfahrung.
Mitten in seiner Angst wird man dann auf einmal einen tiefen Frieden und Vertrauen spüren, da man erkennt, dass man in Krishnas Händen ganz zärtlich aufgehoben ist - und auch viel sicherer als in dem Wahn, sich selber kontrollieren zu können. Die Angst war nur eine Anzeige, ein Alarmsignal, da man tieferliegende Emotionen ignoriert hat. Wenn man wieder darauf hört, dürfen die Kompensationen weichen.


Meine Wünsche und Bedürfnisse:
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Manche Menschen beklagen sich, dass sie keinen Partner/Partnerin finden können, und wollen nun Gott die Verantwortung dafür zuschieben. Aber dann sind sie enttäuscht, da der Wunsch in dieser Welt nicht in Erfüllung gehen kann, jedenfalls nie voll- und be-ständig.

Das "Zu-Ende-Denken" lässt die Wünsche zu. Man gibt vor Gott zu, dass man sich nach Freundschaft und Partnerschaft sehnt. Und dann stellt man sich vor, wie es wäre, wenn man eine Freundin oder einen Partner hätte. Wären dann alle seine Wünsche erfüllt? Wäre man am Ziel seiner Sehnsucht angelangt?
Indem man den Wunsch zulässt und zu Ende denkt, relativiert er sich. Dann sieht man nicht nur den romantischen Teil seines Wunsches. Wenn man ihn in die nüchterne Realität hineinstellt, verliert er das Bedrückende.
Aus dieser Distanz sieht man die Muster, die einen bisher bestimmt haben:
"Ganz unbemerkt, ohne dass es einen aufgefallen wäre, ist aus der Erfüllung des einen Wunsches bereits die Unerfüllung eines nächst anstehenden Wunsches geworden. Das hat man gar nicht bemerkt. Man hat die eigene Unzufriedenheit und Unerfülltheit nur verlagert.
So arbeiten die unendlichen Ketten von unerfüllten Wünschen, die nichts anderes tun, als sich - in dem Moment, wo ein Wunsch aus dieser unerfüllten Kette scheinbar erfüllt wird - auf eine andere Ebene verlagern."

Dann erkennt man, dass man bei aller Sehnsucht nach Freundschaft in der Welt auch danach streben darf, in Radha Krishna seinen Urgrund zu finden. Sonst wird die Sehnsucht jeden Menschen überfordern und ins Leere gehen.

Im "Zu-Ende-Denken" erkennt man, dass all diese Wünsche und Bedürfnisse, nicht einfach abgeschnitten werden sollen, denn dies wäre die Garantie dafür, dass sie alle ständig wiederkämen. Sogar in verstärkter Form.
Man braucht sich die Vorstellungen nicht gleich zu verbieten, sondern man spielt sie zu Ende, aber aktiv. Man lässt sich nicht einfach von seinen Hoffnungen wegtragen (dies ist das Glück in der Erscheinungsweise der Unwissenheit - und würde ihre Wirkungsweise in einem nur erhöhen Bhagavad Gita 18.39), sondern man lenkt sie selber, indem man sich fragt, was man denn eigentlich sucht, wenn man dies begehrt und wenn es einen in der Phantasie dahin drängt.
Ist dies nicht ein Bild für etwas anderes? Ist es realistisch oder verklärt man da seine Bedürfnisse? Ist das überhaupt möglich, was man sich da ausmalt? Wofür sind diese Phantasien Ersatz?
Im "Zu-Ende-Denken" werden seine Bedürfnisse befreit von der Überfrachtung durch die zu hohen Hoffnungen. Das genaue und bewusste Wahrnehmen der Diskrepanz zwischen seinen Erwartungen und Hoffnungen und dem effektiv Erlebten fördert den Wunsch nach einer umfassenderen Freiheit.


Das Ringen um die Überwindung einer Schwäche
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Ich kenne Menschen, die Krishna darum bitten, sie von ihrem Jähzorn zu befreien, dass Er ihnen doch ihre Empfindlichkeit nehmen möge und sie überhaupt von schlechten Eigenschaften befreit würde.
Sie denken, wenn Krishna dies täte, dann wäre alles gut.

Das "Zu-Ende-Denken" geht nun in die Vorstellung ein, wie es denn wäre, wenn man immer ausgeglichen, und keine empfindlichen Stellen und schlechten Eigenschaften mehr hätte.
Wäre man dann spiritueller? Gottgefälliger und auf der Spur echter Lebendigkeit? Ist Krishna an meiner moralischen Integrität interessiert oder einfach nur an einem selber?
Vielleicht würde Selbstgefälligkeit über einen kommen und einen nicht mehr wirklich auf Krishna hinzutreiben. Somit würde man stehen bleiben...
Geht es einen bei der Erfüllung dieser Wünsche um sein Selbstwertgefühl oder wirklich um Radha Krishna?
Hindert einen seine Empfindlichkeit und seine schlechten Eigenschaften oder treiben sie einen nicht vielmehr auf Krishna hinzu?

Wenn man diese persönlichen Nöte, seine Schuldgefühle, seine Selbstvorwürfe zu Ende denkt, dann relativieren sich die Probleme. Ich spüre dann, dass weder die eigenen Schattenseiten, noch seine Empfindlichkeit einen von Krishna wirklich trennen können (was natürlich nicht bedeutet, dass man sich nicht auch um deren Überwindung bemüht).
Im "Zu-Ende-Denken" nimmt man auch wahr, dass genau die eigenen Schwächen einen mehr auf Gott hin lebendig halten als die moralische Souveränität.
Und dann erahnt man eine innere Freiheit von allem Druck, in welchem bisher oft nur der "Geist der Überforderung" innewohnte.

Wenn man all diese Aspekte in einen ganz neutral zulässt, wenn man damit rechnet, dass sich andere Eigenschaften als die im heiligen Leben erwünschten in einen regen, gelenkt von Gewohnheiten, die man in unzähligen Leben sich angeeignet hat, dann verliert man das Vertrauen nur in das eigene Vermögen. Tiefe Demut wird geboren. Wenn man sich von ihnen immer wieder auf Krishna hin ausrichten lässt, dann haben sie eine positive Bedeutung. Sie erinnern einen vielmehr immer neu daran, dass nicht die moralische Perfektion, sondern allein die Hingabe an Radha Krishna Ziel des Lebens darstellt. Aber diese Sehnsucht wird sich nur von Gott selber ausfüllen lassen, wenn man seinen schlechten Eigenschaften nicht einfach nachgibt, und sie als Naturnotwendigkeit hinstellt, sondern wenn man sein verwundetes Herz Krishna hinhält, damit er es heile und mit seiner Liebe erfülle.
Indem man die Gedanken zu Ende denkt, und sie bis in alle Konsequenzen hinein ausmalt, nimmt man ihnen die Kraft, mit der sie uns überwältigen wollen.
In der Bhagavad Gita rät uns Krishna (yukta-svapnavabodhasya 6.17) die Mitte zwischen Askese und Zügellosigkeit.
Die Praxis des "Zu-Ende-Denkens" will weder sich von den Schattenseiten und den eigenen Wunden bestimmen lassen, noch sie einmal mehr in die Verbannung des Unterbewussten hineindrücken, sondern die spirituelle Ursehnsucht, das echte Schreien des ewigen Lebewesens durch all die Verhüllungen unserer weltlichen Identität hindurch wieder spürbar werden lassen, um dadurch die Zwänge der Oberfläche zu entaktivieren.

Das Zu-Ende-Denken enthebt die Seele vom Kampf gegen die Phänomene der Welt und eröffnet ihr den Zugang zu den wesentlichen Bedürfnissen ihrer selbst.

10. Februar 2012

Club-Denken

ein paar Fragen an Menschen in religiösen Institutionen


was ist es denn für ein Vorteil aus spiritueller Sicht, im Club zu sein?

Hängt denn die Bhakti von der Mitgliedschaft im Club ab?

Geht es um den Inhalt, wofür der Club gegründet wurde oder nun einfach um den Club selber?

(Die Krücke soll nicht mit dem verwechselt werden mit dem, für was sie eigentlich dient)
Was ist, wenn der Inhalt für viele ansprechend und faszinierend ist, nur der Club auf sie abstossend wirkt?
Wir sollen annehmen, was förderlich ist.... was ist nun, wenn das Austreten aus dem Club für mein Innenleben förderlich ist?
Der Club diente der Stabilisierung der äusseren Form. Was ist nun, wenn die äussere Form, WIE man etwas tut, in einem drin mehr und mehr zerfällt?
Wie siehst du es - ist das kein spirituelles Leben mehr, wenn alle äussere Form zusammengebrochen ist?
Denkt man, da man Mitglied im Club ist, dass man dadurch ein Privileg bei Krishna hat?
"Wenn ein Mensch unlauteren Sinnes zu dem wahren Gott betet und ein anderer mit der vollen Inbrunst des Unendlichen zu einem Bild, so betet der Erste eigentlich einen Götzen an und der Zweite in seinem Herzen Gott." Sören Kirkegard---------------Die Frage, die da auftaucht ist: für was braucht es denn überhaupt einen Club?
Hat mein Aufenthalt im Club meine innerste Motivation zu Gott mehr gereinigt, wie wenn ich einfach einer kleinen unbedeutenden Arbeit in der Welt nachgehe mit nach Gott-ausgerichteter Liebe?
Sind andere, die nicht im Club sind, ein wenig weniger? (Wenn nein - warum macht dann der Club so aggressiv Werbung, dass man im Club dabei sein solle?)
Was sind denn die materiellen Gründe, weswegen ich im Club bin? (Gibt er mir Sicherheit? Habe ich eine gute Position im Club? Bin ich angesehen von anderen im Club?)
Gibt es manchmal Situationen, wo die Interessen des Clubs über meine eigenen tiefst spirituellen Anliegen darüber gehen?

Wenn ich am Sterben bin - war die Mitgliedschaft im Club von irgendwelcher Relevanz?

Werden im Club nicht manchmal materielle Fähigkeiten (guter Manager, Expertise in Geschäftsfragen oder manchmal nur aufgrund der Zeit, die er schon im Club verbracht hat) als spirituelle Qualitäten verstanden - und bekommt dadurch im Club eine besondere Stellung?

Wenn jemand Gott liebt, Radha und Krishna, spielt es denn eine Rolle, ob er in einem Club ist und in welchem?

Gibt es im Club, der doch ein spiritueller Club sein will, nicht auch bis in die höchsten Etagen Gewinndenken und Vorzeigementalität, um andere zu beeindrucken? Was unterscheidet denn so ein Club noch von anderen weltlichen Clubs?

Wird die Treue zum Club manchmal verwechselt mit dem tiefen Glauben und Gottesvertrauen?

Wird der Erfolg des Clubs manchmal in äusserem Erfolg (wie viele Zweigstellen des Clubs man eröffnet hat... ) und in messbaren Dingen (wie viele Bücher des Clubs verkauft wurden) gemessen und nicht in der Anziehung zum Heiligen Namen und dem Hören von hari-katha?
Betrachtet man den Club als identisch mit dem Heiligen, der ihn gegründet hat?
Ist dann das Verlassen des Clubs ein Verlassen dieses Heiligen?
In den Büchern des Clubs gibt es Aussagen, die selbst von einer säkularen Ethik überwunden wurden. Hängt man noch immer an diesen?
Bedeutet der Austritt aus dem Club, dass man spirituell geschwächter ist?

Viele waren vor dem Eintritt in den Club tiefere Wahrheitssucher als dann, als sie den Club wieder verliessen. Was sagt das über den Club?

Darf man im Club solche Fragen stellen?
Und sind sie willkommen?

27. Januar 2012

Die Parade der Ameisen

(Aus dem Brahma Vaivarta Purana, Krishna janma khanda, 47.50-161, nacherzählt von Heinrich Zimmer


Nachdem Indra einen grossen Asura (Drachengeschöpf) getötet hatte, priesen ihn die Gottheiten in den Himmeln als ihren Retter. Stolz über seinen Triumph und im Bewusstsein seiner Stärke rief er Vishvakarman, den Gott der Künste und Handfertigkeiten, vor sich und befahl ihm, einen Palast zu errichten, wie es noch nie einen gegeben hatte in den Himmelswelten.
Vishvakarmans wunderbarem Genius gelang es in einem einzigen Jahr eine strahlende Residenz zu errichten, leuchtend von Palästen und Gärten, Seen und Türmen. Aber wie das Werkt fortschritt, wurden Indras Wünsche immer anspruchsvoller, und seine Phantasien entfalteten sich zu immer erhabenerer Grösse. Er verlangte neue Terrassen und Pavillons, mehr Teiche, Grotten und Schmuckplätze. Immer wenn Indra kam, um Vishvakarmans Arbeit zu loben, entwickelte er Vision über Vision von Wundern, die noch zu vollbringen wären. Endlich, zur Verzweiflung gebracht, entschloss sich der göttliche Baumeister, Hilfe von oben zu suchen und sich an den Weltenbildner Brahma, die allererste Existenz in diesem Universum, zu wenden. Er residiert weit oberhalb der wirrenreichen Sphäre der Götter, in welcher auch noch Ehrgeiz, Wetteifer und Ruhmsucht existieren.

Als Vishvakarman heimlich zu dem höheren Göttersitz wandelte und seine Beschwerde vortrug, tröstete Brahma den Bittsteller. „Du sollst bald von deiner Last erlöst werden“, sagte er, „gehe in Frieden.“ Vishvakarman eilte wieder abwärts zur Stadt Indras. Brahma aber erhob sich zu einer noch höheren Sphäre und kam Vor Vishnu, dem höchsten Wesen, von dem er, der Schöpfer, selbst nur ein Diener war. In seligem Stillschweigen schenkte ihm Vishnu Gehör und liess ihn durch ein leichtes Neigen seines Hauptes wissen, dass Vishvakarmans Bitte erfüllt werden würde.

Früh am nächsten Morgen erschien ein Brahmanenknabe, den Pilgerstab in der Hand, am Palast Indras und bat den Pförtner, dem König seinen Besuch anzumelden. Der Torwächter eilte zu seinem Herrn und der Herr zum Tor, um persönlich den glückverheissenden Gast zu begrüssen. Der schlanke Knabe, ungefähr zehn Jahre alt, strahlte vom Glanz der Weisheit. Indra fand ihn inmitten eines Haufens staunender, gebannt blickender Kinder. Der Knabe begrüsste seinen Gastgeber mit einem freundlichen Blick aus seinen dunklen, glänzenden Augen. Der König verneigte sich vor dem heiligen Kind, das ihn heiter segnete. Beide zogen sich in Indras Halle zurück, wo der Gott seinem Gast mit feierlichen Gaben von Honig, Milch und Früchten den Willkommen bot.
„Verehrenswürdiger Knabe, verkünde mir den Zweck deines Besuches“, sprach er dann.
Das schöne Kind erwiderte mit einer Stimme, die so tief und sanft war wie das leise Donnern segenverheissender Regenwolken: „König der Götter, ich hörte von dem mächtigen Palast, den du erbaust, und bin gekommen, dir die Fragen vorzulegen, die in meinem Gemüt entstanden sind. Wieviele Jahre wird es brauchen, diesen reichen und ausgedehnten Wohnsitz zu vollenden? Welche weiteren Leistungen seiner Kunst werde von Vishvakarman noch verlangt werden? Höchster der Götter“, - im leuchtenden Gesicht des Knaben zeigte sich ein feines, kaum wahrnehmbares Lächeln – „keinem Indra vor dir ist es je gelungen, solch einen Palast zu vollenden, wie deiner werden soll.“

Berauscht vom Wein des Sieges in seinen Adern fühle sich der König der Götter belustigt von der Behauptung dieses blossen Knaben, Indras zu kennen, die früher waren als er selbst, und fragt ihn mit väterlichem Lächeln: „Sag mir, Kind, sind sie denn wirklich so zahlreich, die Indras und Vishvakarmans, die du gesehen oder von denen du wenigstens gehört hast?“

Der wunderbare Gast nickte ruhig: „Ja. Viele von ihnen habe ich gesehen.“ Die Stimme war so warm und süss wie frische Milch, die eben von der Kuh kommt, aber was sie sagte, sandte einen Schauder durch Indras Adern. „Kindchen“, fuhr der Knabe fort, „ich kannte deinen Vater, Kashyapa, den alten Schildkrötenmann, den Herrn und Erzeuger aller Kreaturen auf der Erde; und ich kannte deinen Grossvater, Marichi, den Strahl des göttlichen Lichtes, der Brahmas Sohn war. Marichi war aus dem reinen Geist des Gottes Brahma erzeugt; sein einziger Reichtum und Ruhm waren seine Heiligkeit und seine Hingabe. Auch Brahma kenne ich, das Geschöpf Vishnus, entstanden aus dem Lotoskelch, der aus Vishnus Nabel wuchs. Und Vishnu selbst, das höchste Wesen, das Brahma in seinem schöpferischen Walten trägt und stützt, auch ihn kenne ich.
König der Götter, ich habe die furchtbare Zerstörung des Alls miterlebt. Am Ende jedes Kreislaufes habe ich wieder und wieder alles vergehen sehen. In dieser schrecklichen Stunde löst sich jedes Atom in die reinen jungfräulichen Wasser der Ewigkeit auf, woher ursprünglich alles entstieg. Alles sinkt dann zurück in die unergründliche wilde Unendlichkeit des Urozeans, der leer von jedem Zeichen belebten Seins ist und unter äusserster Dunkelheit begraben liegt. Wer will die Welten zählen, die vorübergegangen sind oder die Schöpfungen, die sich wieder und wieder aus dem formlosen Abgrund der weiter Wasser erhoben haben? Wer will die stets wieder vergehenden Zeitalter der Welt zählen, wie sie endlos aufeinander folgen? Und wer will die weiten Unendlichkeiten des Raums erforschen, um all die Allwelten säuberlich zu zählen, von denen jede ihren Brahma, ihren Vishnu und ihren Shiva besitzt? Wer will all die Indras in ihnen zählen, die alle gleichzeitig in diesen unzählbaren Welten herrschen; jene anderen, die vor ihnen waren, oder selbst die Indras, die einander in ihren Bahnen folgen, jeder zum Götterkönigtum aufsteigend und jeder wieder vergehend? König der Götter, unter deinen Dienern behaupten manche, es sei möglich, die Sandkörner auf Erden und die Regentropfen, die vom Himmel fallen, zu zählen. Aber niemand wird jemals all jene Indras aufzählen können. Dieses wissen die Wissenden.
Leben und Herrschaft eines Indras dauern 71 Äonen (Yuga-zyklen von je 4´432´000 Jahren), und wenn 28 Indras erloschen sind, ist ein Tag und eine Nacht Brahmas vorüber. Aber das Dasein eines Brahma in solchen Brahma-Tagen und – Nächten gemessen, ist nur 100 Jahre lang. Brahma folgt auf Brahma; der eine sinkt, der nächste steigt auf; ihre endlose Reihe fasst kein Bericht. Die Zahl dieser Brahmas ist unendlich – von den Indras ganz zu schweigen.

Und die Allwelten (Universen), die in jedem Augenblick entstehen, jede mit ihrem Brahma und ihrem Indra: wer will ihre Zahl ermessen?
Jenseits der fernsten Schau, jenseits der äussersten Räume kommen und gehen die Welten, eine unzählbare Schar. Gleich zierlichen Booten schaukeln sie auf den grundlosen reinen Wassern, auf welchen der Leib Vishnus schläft. Aus jeder Pose dieses unendlichen Leibes sprudelt und steigt eine Welt. Willst du es unternehmen, sie zu zählen? Kannst du die Götter in all diesen Welten nennen, in den heutigen und denen, die längst vergangen sind?“

Während der Rede des Knaben war ein Zug Ameisen in der riesigen Halle erscheinen und marschierte in militärischer Ordnung, vier Ellen breit, über den Flug. Als er sie bemerkte, schwier der Knabe und blickte vor sich hin. Dann lachte er plötzlich überraschend laut, um gleich darauf in ein tief einwärts gerichtetes, gedankenvolles Schweigen zu versinken.
„Warum lachst du?“ stammelte Indra. „Wer bist du, geheimnisvolles Wesen, das sich täuschend als Knabe verkleidet?“ Lippen und Kehle des stolzen Königs waren wie ausgetrocknet, und seine Stimme drohte zu versagen. „Wer bist du, Meer der Tugend, in trügerischem Nebel verborgen?“

Der herrliche Knabe begann wieder: „Ich lachte, wegen der Ameisen. Den Grund darf ich dir nicht sagen; bitte mich nicht, ihn dir zu enthüllen. Der Same des Leides und die Frucht der Weisheit sind in diesem Geheimnis eingeschlossen, das wie mit einer Axt den Baum der weltlichen Eitelkeit umstürzt, seine Wurzeln abhackt und seine Krone knickt. Dieses Geheimnis ist ein Licht für die in Unwissenheit Tastenden. Es liegt in der Weisheit der Zeiten verborgen und wird selbst Heiligen selten offenbart. Dieses Geheimnis ist Atemluft für die Asketen, die das sterbliche Dasein aufgeben und überwinden: aber die von Verlangen und Stolz eingelullten Weltlinge zerbricht es.“

Der Knabe lächelte und sank in das Schweigen zurück. Indra sah ihn an, unfähig sich zu rühren. „Brahmanensohn“, flehte der König dann mit neuer und sichtbarer Demut, „ich weiss nicht, wer du bist. Du scheinst mir die mundgewordene Weisheit zu sein. Enthülle mir dieses Geheimnis der Zeiten, dieses Licht, welches das Dunkel vertreibt.“

Aufgefordert ihn zu belehren, öffnete der Knabe dem Gott die verborgene Weisheit: „Ich sah die Ameisen, Indra, in langer Parade vorbeiziehen, und jede Ameise war einst vor Äonen ein Indra. Gleich dir erhob sich jeder durch das Verdienst frommer Handlungen einstmals zum Rang des Götterkönigs. Doch nun, durch viele Wiedergeburten hindurch, ist jeder wiederum eine Ameise geworden. Diese Heerschar der Ameisen ist eine Armee früherer Indras.
Frömmigkeit und edle Handlungen erheben die Bewohner der Welt zu dem strahlenden Land der Götterwohnungen, oder auch zu den höheren Reichen Brahmas und Shivas. Nur heilige, ganz Gott geweihte Handlungen erheben sie in die höchste Sphäre Vishnus.
Aber hässliche Taten lassen sie wieder in die unteren Welten sinken, in die Gruben von Schmerz und Kummer, in die Wiederverkörperungen zwischen Vögeln und Würmern, in Leibern von Schweinen und wilden Tieren oder unter Bäumen und Insekten.
Durch seine Handlungen erwirbt einer den Rang eines Königs oder Brahmanen oder eines Gottes oder eines Indra oder eines Brahma. Durch seine Handlungen stürzt man in Krankheit, erwirbt Schönheit oder Hässlichkeit oder wird als Ungeheuer wiedergeboren.
Dies ist das ganze Wesen des Geheimnisses. Diese Weisheit ist die Fähre, die über das Leidensmeer zur Seligkeit führt.

Das Leben im Kreislauf unzähliger Wiedergeburten gleicht einem im Traum geschauten Bild. Die Götter hoch oben, die stummen Bäume und Steine untern sind wie Erscheinungen darin. Aber der Tod verwaltet das Gesetz der Zeit; von ihr eingesetzt ist er der Herrscher aller Dinge. Wie Seifenblasen vergänglich ist das Gut und Übel der Traumwesen. In endlosen Umläufen wechseln das Angenehme und das Unangenehme ab. Darum heftet sich der Weise an nichts, weder an das Erwünschte noch an das Unerwünschte. Der Weise ist an überhaupt nichts gefesselt.“
Der Knabe hatte seine schaudererregende Lehre beendet und betrachtete ruhig seinen Gastgeber, den König der Götter, der sich trotz seines himmlischen Glanzes vor sich selbst zur Unbedeutendheit zusammengeschrumpft fühlte. Inzwischen hatte eine andere erstaunliche Gestalt die Halle betreten.

Der Neuankömmling hatte das Aussehen eines Einsiedlers. Sein Kopf war mit verfilztem Haar bedeckt; er trug ein schwarzes Tierfell um seine Hüften; auf seiner Stirn war ein weisses Zeichen gemalt, und sein Haupt wurde durch einen ärmlichen Grasschirm beschattet. Auf seiner Brust wuchs ein wunderliches, kreisförmiges Büschel Haar, das am Rand unberührt erschien, während in der Mitte offenbar viele von den Haaren ausgefallen waren. Der heilige Mann begab sich geradewegs zu Indra und dem Knaben, liess sich zwischen ihnen auf dem Boden nieder und blieb dort bewegungslos wie ein Felsen. Der königliche Indra, seiner Rolle als Gastgeber eingedenk, verneigte sich in tiefer Ehrfurcht, saure Milch mit Honig und andere Erfrischungen anbietend. Dann erkundigte er sich stockend, doch ehrerbietig nach dem Befinden des ernsten Gastes und hiess ihn willkommen. Da sprach der Knabe dein heiligen Mann an, ihm eben die Fragen vorlegend, die Indra im Sinn hatte.

“Woher kommst du, heiliger Mann? Wie nennst du dich und was bringt dich hierher? Wo ist deine Heimat und was bedeutet dieser Grasschirm? Was ist der Sinn dieses runden Haarbüschels auf deiner Brust? Warum ist er dich am Rand, aber in der Mitte fast kahl? Habe die Güte, heiliger Mann, mir eine kurze Antwort zu geben, denn ich warte bebend auf Erleuchtung.“

Der alte Heilige lächelte gutmütig. „Ich bin ein Brahmane“, erwiderte er langsam. „Mein Name ist „der Haarige“, und ich bin gekommen, um Indra zu sehen. Seitdem ich erkannte, dass mein Leben zur kurz ist, habe ich mich entschlossen, kein Heim zu besitzen, kein Haus zu bauen und weder zu heiraten noch einen Erwerb zu suchen. Ich lebe von Almosen, und um mich vor Sonne und Regen zu schützen, trage ich diesen Grasschirm über meinem Kopf.
Was nun der Kreis von Haaren auf meiner Brust betrifft, so ist er eine Quelle des Kummers für die Weltlinge. Dennoch lehrt er Weisheit. Mit jedem Sturz eines Indra fällt ein Haar aus, darum sind in der Mitte alle Haare fort. Wenn die andere Hälfte der Weltzeit vorüber ist, die dem gegenwärtigen Brahma gewährt ist (Anm: die andere Hälfte von Brahmas Leben – 156 Billionen Jahre), werde auch ich sterben. Also, Brahmanenknabe, bin ich etwas knapp an Zeit. Was sollte mir da ein Weib, ein Sohn oder ein Haus?

Jeder Wimpernschlag des grossen Vishnu bezeichnet das Erlöschen eines Brahma, aller unterhalb der Sphäre Brahmas aber ist so unwesenhaft wie eine Wolke, die Form annimmt und sich wieder auflöst. Darum habe ich mich ausschliesslich der Betrachtung der unvergleichlichen Lotosfüsse des höchsten Vishnu geweiht. Glaube an Vishnu ist mehr als das Entzücken der Erlösung; dann jede Freude, selbst die himmlische, ist so zerbrechlich wie ein Traum und nur geeignet, die Zielstrebigkeit unseres Glaubens an ihn, den Höchsten, zu stören.
Shiva, der Friede verleihende, der höchste geistige Führer, lehrte mich dieses wunderbare Wissen. Ich giere nicht danach, die verschiedenen Entzückungen der Erlösung zu erfahren: die erhabenen Wohnungen des höchsten Gottes zu teilen und seiner ewigen Gegenwart zu geniessen oder in Leib und Erscheinung ihm gleich zu werden oder selbst in seinem unerschöpflichen Kern aufzugehen. Ich möchte einzig und allein, Leben für Leben mich diesem höchsten Herrn gewahr sein und ihm dienen.“

Unvermittelt schwieg der heilige Mann und verschwand. Es war der Gott Shiva selbst gewesen, der nun zu seiner überweltlichen Verborgenheit zurückgekehrt war. Im gleichen Augenblick verschwand auch der Brahmanenknabe, der Vishnu gewesen war. Der König, erschrocken und bestürzt, blieb allein zurück.

Er grübelte; das Vorgefallene erschütterte ihn tief, sodass seine gesamte Umgebung und sein Leben ihm nun wie ein Traum erschienen.
Er fühlte nun kein Verlangen mehr, seinen himmlischen Glanz zu vermehren oder den Bau seines Palastes fortzusetzen. Er rief Vishvakarman herbei, begrüsste ihn gnädig mit honigsüssen Worten und überhäufte ihn mit Juwelen und kostbaren Geschenken. Dann gar er ihm ein prunkvolles Fest und entliess ihn.
Nachdenklich….



Indra verlangte nun nach Erlösung. Er hatte das Wissen erlangt und wünschte nur noch frei zu werden. Den Pomp und die Last seines Amtes vertraute er seinem Sohn an und bereitete sich für ein Einsiedlerleben in der Wildnis vor. Als sie dies bemerkte, wurde seine wunderschöne und liebevolle Gattin Sachi von Kummer überfallen.
Weinend und in Traurigkeit wandte sich Sachi an Indras klugen Hauspriester und geistlichen Berater, den Herrn tiefster Weisheit, Brihaspati. Zu seinen Füssen kniend bat sie ihn, den Sinn ihres Gatten von seinem harten Entschluss abzulenken. Der einfallsreiche Ratgeber der Götter, der mit seinen Sprüchen und Listen den himmlischen Mächten oft geholfen hatte, die Herrschaft des Alls den Händen ihrer titanischen Rivalen zu entreissen, lauschte nachdenklich der Klage der Gattin und nickte ihr verstehend zu. Mit dem Lächeln des erfahrenen Lehrers nahm er sie an der Hand und führte sie vor ihren Gatten. Dann verbreitete er sich in der Rolle des geistlichen Beraters weise über die Vorzüge des geistlichen Lebens, aber auch über die Tugenden des weltlichen, in geschickter Entwicklung des Themas und jedem das Seine gebend. Sein königlicher Schüler wurde überredet, von seinem Entschluss abzulassen, und die Königin erblühte aufs Neue in strahlender Freude.

Dieser Brihaspati, Herr von tiefer Weisheit, hatte einst eine Abhandlung über die Kunst der Herrschaft verfasst, um Indra zu lehren, wie er die Welt zu regieren habe. Nun schrieb er ein zweites Werk, eine Abhandlung über Politik und Strategie der Liebe in der Ehe. Von der süssen Kunst der steten Werbung erzählend und der immer neuen Fesselung des Geliebten mit dauernden Banden, schenkte dieses unvergleichliche Buch dem ehelichen Leben des wiedervereinten Paares die schönsten und unerschütterlichsten Grundlagen.
So schliesst die wunderbare Geschichte, wie der König der Götter in seinem grenzenlosen Stolz gedemütigt, von seinem übermässigen Ehrgeiz geheilt und durch geistliches wie weltliches Wissen zur Erkenntnis der ihm zukommenden Rille im kreisenden Spiel nie endenden Seins gebracht wurde.





Anmerkung:

In dieser Geschichte eröffnet sich uns der Pulsschlag eines anderen Raum und Zeitgefühls. Die Geschichte des Weltalles in seiner periodischen Wandlung von Entwicklung zu Auflösung wird als ein Prozess stufenweiser und unaufhaltsamer Verschlechterung, Dekadenz und Aufsplitterung aufgefasst. Erst nachdem alles seinen Lauf in die völlige Vernichtung beendet hat, und damit in den Mutterschoss der grenzenlosen, zeitlosen kosmischen Nacht zurückgekehrt ist, erscheint das Weltall wieder in neugeborener, uranfänglicher herrlicher Vollendung. Woraufhin mit dem ersten Zeitschlag der unumkehrbare Prozess von neuem beginnt. Die Biografie eines Menschen ist immer wertvoll, aber manchmal wertet man die Dramen und eigenen Lebensgeschichten zu stark und sie verbauen Zugang zu einem viel umfassenderen Geschehen. Wir sind offensichtlich nicht die Hauptdarsteller auf der Bühne.
Biografie ist diejenige Form des Sehens, die sich auf das Einzigartige in jedem Teil des Daseins richtet und sich bemüht, dem ganzen Sinn zu verleihen.
Wir machen Wertunterschiede im Vergänglichen und wollen uns mit egozentrischer Hartnäckigkeit gegen diesen riesigen Fluss der Zeit stellen. Doch dabei verlieren wir die Perspektive für das Ewige, was immer bleibt.


Die Herausforderung unseres Lebens in solchen gigantischen Wandlungsprozessen drin ist nicht, in den Kampf damit zu treten, sondern sich still dem Quell von allem zuzuwenden.

Aber die Geschichte wäre unvollständig, wenn das letzte Wort die Unendlichkeit von Raum und Zeit geblieben wäre. Die Vision zahlloser wie Seifenblasen gleichzeitig ins Dasein tretender Weltalle und die Lehre von den unendlichen Reihen der Indras und Brahmas würden der individuellen Existenz jeden Wert nehmen. Zwischen der grenzenlosen, atemberaubenden Vision und dem gegenüberstehenden Problem der begrenzten Rolle des kurzlebigen Individuums geschieht eine Wiederherstellung des Gleichgewichtes.
Brihaspati, der spirituelle Lehrer der Devas, lehrt Indra (das heisst uns selbst, das verwirrte Individuum), jeder Sphäre das ihre zu geben. Wir werden gelehrt, das Göttliche zu erkennen, die Sphäre der entgrenzenden Ewigkeit, welche unablässig und alterslos jenseits aller Zeiten existiert. Aber wir werden ebenso angewiesen, die vorübergehende Sphäre unseres jetzigen Lebens, unser individuelles Dasein ernst zu nehmen und nicht spirituell abzuheben und somit einfach den Moment zu übergehen.

In diesem Zusammenspiel zwischen Entgrenzung der Ewigkeit und dem bewusstem Akzeptieren dies hiesigen menschlichen Lebens geschieht ein Riss in die Zeit.