26. November 2011

Schattenseiten der Spiritualität

Die Konsumkultur basiert auf dem Bemühen, einen Ausweg aus den permanenten unterschwelligen Sorgen und Schmerzen zu finden. Man sucht nach der nächsten Stimulation im Aussen, die einem das Gefühl zu leben schenkt. Denn in der Identifikation mit der körperlichen Existenz reduziert man das eigentliche Lebensgefühl und das einzige Lebenszeichen ist der Impuls, den man durch die Sinne aufnimmt.
Doch in allen Erfahrungen in der Aussenwelt erlebt man nicht einen einzigen Berührungspunkt mit der unvergänglichen Seele, mit dem, was man wirklich ist.

Schmerz wegzustossen ist eine grundlegende Funktion der Existenz, die sich an der Oberfläche verloren hat. Mit der Zeit lernt man, dass all diese Abstossungs-Bemühungen keine anhaltende Wirkung zeigen. So beginnt für die meisten Menschen die Suche nach einem spirituellen Weg als eine Reaktion auf Schmerz. Es gibt nur ganz wenige Individuen, die von einem Ort der Freude und der inneren Genügsamkeit und Zufriedenheit auf diesen Weg gelangen. Normalerweise sucht man eine andere Realität, weit entfernt von der Quelle des Kummers, und wendet sich der Religion zu, die einem eine perfekte Welt verheisst. Ohne die Versöhnung mit der Welt und ohne seine Grundmotivation des Fluchtgedankens von der materiellen Welt genau zu betrachten, wird dieser innere Weg bald zu einer weiteren Last. Zu einer weiteren Aufbürdung.
Wenn man den spirituellen Weg unbewusst seiner eigentlichen Motivation angeht und ihn als Verteidigungsmechanismus gegen den Schmerz versteht, ohne die darunter liegenden psychologischen Probleme anzugehen, wird das längerfristig zu einer tiefen Spaltung führen.

Ein Hungriger bekommt zu essen; ein Kranker wird geheilt; ein Bedürftiger erhält und ein Einsamer verliebt sich…All dies ist Füllung, aber wenn die spirituellen Traditionen von „Erfüllung“ sprechen, meinen sie damit eine komplett andere Erfahrung. Sie hat mit der momentan-Zufriedenstellung erfüllter Vorstellungen und Wünschen keine Kongruenzfläche.
Erfüllung ist, wenn man als Seele mit dem in Berührung gelangt, nach welchem man sich seit Ewigkeiten gesehnt hatte… mit Radha und Krishna. Dies hat zur Folge, dass man seinen Streckfühler nach den Füllungen als überflüssig erkennt. Es ist eine Erfüllung, die sich nicht mehr wandelt und die nie verwelkt oder verblasst, sondern ewiglich in Weiterentwicklung begriffen ist.

Doch fast alle Menschen beginnen sich in der Ausgangslage des inneren Loches, aus der Bedürftigkeit heraus, auf die spirituelle Reise zu machen. Das bedeutet, dass man das Heilige gebraucht für ein Eigeninteresse. Dieses Phänomen bezeichnete Karl Marx mit seiner berühmt gewordenen Religions-Kritik „Religion ist Opium für das Volk“.
Die ersten Strahlen der Berührung mit dem Heiligen können effektiv etwas Magisches in sich haben. Es ist wie Regenwasser auf die ausgetrockneten Lippen, nachdem man lange auf allen vieren durch die Wüste gekrochen ist. Man geniesst es und saugt es auf. Es vermittelt einen ein Gefühl von Lebendigkeit und einen bisher unbekannten Frieden. Allerdings ist dies noch nicht einmal die Vorspeise und darf nicht mit dem Hauptgang verwechselt werden.

Es ist leicht, eine Erleuchtungserfahrung zu machen und glückselige Leichtigkeit darin zu fühlen.
Die Schwierigkeit ist, die Wachsamkeit aufzubringen, der Tendenz zu widerstehen, in das Alte zurückzufallen - denn wie viele Menschen haben schon wunderbarste Öffnungserfahrungen gemacht - und sind wieder zurückgekehrt in das Alte, in das Leiden, in das Gewohnte, in die Leidenschaften, in die versteckten Tendenzen dieses Geistes. Wie viele Menschen haben tiefgreifende Erfahrungen gehabt und sind dann auf einer subtileren Ebene des Geistes wieder gelandet, und haben sich wieder abgekehrt von dieser vollkommenen Hingabe, die den Tod des Ichs mit sich bringt.

Das weit verbreitete Missverständnis darin ist, dass die spirituelle Arbeit auch die psychologische Arbeit gleich miterledige und alle Betrachtungsarbeit der eigenen Konditionierungen überflüssig mache.

Die meisten Menschen kommen nicht einfach nur auf den inneren Weg, sondern tragen auch ein Bündel vergangener Schmerzen mit sich in der Hoffnung, dass diese sich durch den inneren Weg von alleine auflösen mögen. Das ist ein fundamentales Missverständnis.
Zu Beginn meiner spirituellen Suche war ich der fälschlichen Ansicht, dass Erleuchtung oder heilige Zustände gleichbedeutend seien mit einer sofortigen Verwandlung in eine vollkommene Persönlichkeit. Es bedurfte vieler schmerzhafter Erfahrungen, bis diese Idealisierung in mir einem realistischeren Bild gewichen ist und ich erkennen durfte, dass psychologisches Selbstbewusstsein und spirituelles Erwachen zwei völlig verschiedene und nicht miteinander verwandte Dinge sind. Wenn man tiefe Verwundungen in sich trägt, heilen diese nicht automatisch durch eine innere Gotteszuwendung.

Erikson beschreibt Integrität als die Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte und das Erlangen eines starken Selbstwertgefühls, also dem Gefühl für seine einzigartige Würde.

Man findet nur selten einen Lehrer, der die therapeutische Kernarbeit, die Begegnung mit Schatten, in sich integriert hat auf seinem Weg in die Transzendenz. Oft haben Lehrer Gaben, inspiratives Charisma, aber ihr Ego ist in das spirituelle Wissen verstrickt und so gibt es eine Mischung, die eigentlich recht schwer verdaulich ist. Das bedeutet, er ist nicht in jeder Beziehung rein und durchleuchtend für eine spirituelle Wirklichkeit. Sogar ein Lehrer, der einen authentischen Durchbruch erlebt hat, kann problematisch sein, wenn er nicht einen inneren achtsamen Aufwand betrieben hat, die Verlockungen seiner Ego-Persönlichkeit abzulegen.
Der erwachte Zustand bietet zwar eine Veränderung des Standpunktes und der Interpretation des objektiven Geschehens, verändert aber nicht die Persönlichkeit. Die Persönlichkeitsstruktur braucht ihre eigene Heilung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir eine gewisse emotionale Arbeit machen und damit aufhören, sobald man die ersten Vorteile der Veränderung spürt. Das ist das typische Muster von raja-guna: Man gibt sich mit der ersten Linderung und Erleichterung zufrieden und strebt nicht wirklich die Heilung an. Man ist nicht wirklich an der inneren Aufräum-Arbeit interessiert.

An dieser Stelle kann man wirklich süchtig werden nach diesem ersten Gefühl der spirituellen Erleichterung und man wird alles tun wollen, um dieses Erlebnis zu wiederholen. Es geht einem nicht um Wahrheit, sondern um das Wohlbefinden der Überschwänglichkeit, die man für Erleuchtung hält. Das bedingte Selbst (Ego) geniesst es und inkoorperiert diese Erfahrung in sein System. Man wird Gott und den spirituellen Pfad für das Eigeninteresse einspannen. Nun setzt man den Schlaf unter dem Schein des Aufwachens fort. Das Ego hat alle Techniken für sich selbst eingesetzt und nicht zur Freude Gottes. Es wird nicht erleuchteter, sondern selbstgefälliger. Die mögliche Vernichtung der weltlichen Tendenzen wurde nun geschickt abgewendet.
Viele aufrichtige Menschen haben in ihrem Leben vielleicht schon profunde Erweckungserlebnisse gehabt, aber irgendwann sind sie wieder im Imperium des Geistes stecken geblieben. Den Weg nicht einfach zur ersten Annehmlichkeit zu gehen, wo die Einflüsse des Schmerzes aufgelöst werden, sondern wirklich zu Ende, zur Begegnung mit Radha und Krishna, ist ein Entschluss, den man täglich aufs Neue sich fassen muss.
„Um was geht es mir wirklich? Benütze ich den Weg der Gottesliebe als Vorwand, mich sicherer, besser und anders (besonders) zu fühlen, also für das kleine Wohlbefinden? Das ist nicht der Pfad der Unvergänglichkeit, sondern eine Wohlfühlspiritualität. Oder geht es mir aufrichtig darum, Radha und Krishna einfach nur zu erfreuen?

Es gibt die Erfahrung der Öffnung und danach versinkt man wieder in den Schlaf. Viele Wege lehren einem, immer Anfänger zu bleiben – diesen Geist zu pflegen – weil genau das einem die nötige Bescheidenheit schenkt, sich fortwährend auf das Ziel zuzubewegen und die innere geistige Flexibilität aufrecht zu erhalten. Nur so kann sichergestellt werden, dass man die anfängliche Öffnung nicht mit dem Ziel verwechselt.

Einige der radikalsten Befürworter des Wandels in der 68-er Bewegung wurden die gläubigsten Fürsprecher des Status quo. Das zeigt nur auf, wie schnell eine verborgene Tendenz das Ruder wieder an sich reissen kann.

Im Unbewussten vermischen sich unsere Ursehnsüchte mit alten innerweltlichen Tendenzen. Diese imitieren schnell den inneren Weg, um ihn für ihre Interessen abzubuchen. Dann hat man Schein-Seelisches und somit Schein-Heiliges im Gepäck.
Ganz im Inneren spüre ich die Dringlichkeit, die Mischzustände nicht einfach ignorieren oder spirituell beschönigen und damit rechtfertigen zu wollen. Das ist die konstante Suche, das Reinere und Echtere aufzuspüren.

Der „Schatten“ ist ein Metapher, den C.G. Jung zu Beginn des letzten Jahrhunderts formuliert hat. Er steht für unterdrückte Gefühle, die nicht in die Norm passen, für Emotionen, die eigentlich in eine andere Richtung drängen als man sich eingestehen will. Es ist die unterhalb des normalen Wachbewusstseins bestimmende Persönlichkeit, die sich aus Eindrücken vieler Leben gestaltet. Sigmund Freud erwähnte, dass die meisten Menschen nur einige Prozent ihrer Bewusstseinsinhalte kennen und dies dann ihr „Tagesbewusstsein“ nennen. Das bedeutet, dass ein Grossteil der Emotionen und Gedanken „unterirdisch“ verlaufen und eigentlich das Sagen hat. Wie macht sich das denn bemerkbar? Selbst wenn man sich ein gewisses Verhalten vornimmt, wiederholt man dennoch alte Muster. Willenskraft ist hier relativ unwirksam, egal wie gut die Absichten sind und wie stark man sich auch darum bemühen mag. Man kann sich nur einmal all die guten Vorsätze von Silvester vor Augen halten, die man zwar Jahr für Jahr fasst, die aber dennoch keine anhaltende Wirkung haben. Oder man beobachtet, wie manche Menschen recht verbissen einen inneren Weg begehen – was ja nur aufzeigt, dass unterirdische Tendenzen einen eigentlich woanders hintreiben möchten.
Man kann das spirituelle Leben nicht als Maske für unterschwellige Probleme mit Wut, Sexualität oder Habgier benutzen. Die Anschauung, dass ein spiritueller Mensch niedere Emotionen überwunden habe, giesst da noch mehr Öl ins Feuer, da auf diese Weise dieser Person keinen Raum gegeben wird, offen diesen Energien zu begegnen. Kein noch so heiliges Verdrängungsgewand ist stark genug, diese Energien zurückzuhalten.
Verdrängung und Nichtanerkennung des Schattens sind Mechanismen, welche langfristig dessen Einfluss auf das Leben intensivieren, bis er gänzlich das Ruder übernimmt und man dann vielleicht sogar Dinge tut, die man niemals hätte ausführen wollen. Dann wirkte dieser Schatten wie ein Dampfkochtopf, der einfach nicht mehr dicht halten kann. Gewalt, Hass, Sucht, Neigung zur Zerstörung und Aggression sind nur die ersten anfänglichen Symptome des Druckablass des Gewichtes des Schattens. Durch Projektion überträgt man seinen unbewussten Schatten auf andere Menschen, Rassen oder Nationen und reagiert dann äusserlich auf diese, anstatt sich mit dem inneren Schatten auseinanderzusetzen.
Das Nichtstellen-wollen, die Unterdrückung des Schattens braucht enorme Lebensenergie, die einem dann zum proaktiven Leben fehlen wird. Es ist vielleicht so wie in einer Diktatur, in der die Steuergelder des Volkes ein Apparat finanzieren, der das Volk unterdrückt und dessen Vitalität und Kreativität blockieren.

Anstatt dem Schatten weiter einfach nur entgegenhalten zu wollen, stellt man sich ihm. Betrachtet ihn. Lässt ihn zu. Lädt ihn ein.
Wir dürfen uns aussöhnen, dass in uns nicht nur Liebe ist, sondern auch Hass, dass trotz allen religiösen und moralischen Strebens auch mörderische Tendenzen in uns sind, Aggressionen, Wut, Eifersucht, depressive Stimmungen, Angst und Feigheit.
In uns ist nicht nur eine spirituelle Sehnsucht, sondern sind auch gottlose Bereiche, die gar nicht in die Ergebung vor Radha Krishna gehen wollen.
Wer sich dem eigenen Schatten nicht stellt, der projiziert ihn unbewusst auf andere. Er gibt die eigene Disziplinlosigkeit nicht zu und sieht sie nur bei anderen. Dann schimpft er über Weggefährten, die ihr Leben nicht konsequent genug leben und sich zu sehr gehen lassen.
Den Schatten anzunehmen heisst nicht, ihn einfach auszuleben, sondern zuerst einmal, ihn sich einzugestehen. Das verlangt Demut, den Mut herabzusteigen vom Idealbild, sich hinabzuneigen in den Raum seiner eigenen Realität, in dem auch Dinge existieren, welche nicht immer konform sind mit heiligen Idealvorstellungen
Das lateinische Wort für Demut „humilitas“ meint, dass man seine eigene Erdhaftigkeit, den Humus in einem selbst, annimmt.
Die Aspekte unserer Erdverbundenheit, unserer Bedingtheit unserer Gefühlswelten brauchen vor der Disidentifikation mit ihnen zunächst einmal die liebevolle Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist geartet, wie die Aufmerksamkeit einer Mutter, die ihr Kind tröstet, selbst aber unberührt vom Kummer des Kindes bleibt. Es ist eine liebevolle, nicht wertende, zuhörende Aufmerksamkeit, eine Achtsamkeit sich selbst gegenüber, die man oft erst erlernen muss, weil wir kaum je die Erfahrung gemacht haben, wie es ist, in den Genuss einer solchen Aufmerksamkeit zu kommen.


Wie oft haben wir verletzt
Weil wir zuvor selbst verletzt wurden
Und wiederum davor ebenso verletzt haben

Aus diesem uralten Kreislauf aussteigen
Und volle Verantwortung übernehmen
Für unser Leben
Für alles, was damit zusammen hängt
Hinschauen, tief fühlend Hinschauen
Verstehen – Gehen lassen –
Und es nun zu Krishnas Füssen hinlegen…
Hieraus erwächst die Freiheit,
die der Seele doch zusteht.
Der Beginn von Bhakti.


Der menschliche Schatten existiert auch, wenn er unentdeckt oder unterdrückt bleibt, nicht anerkannt oder überschminkt wird mit dem falschen Schein des gesellschaftlich akzeptierten Benehmens. Aber man kann ihn auch übergehen mit dem Denken, heilig zu sein und darüber zu stehen. Das wäre die Scheinheiligkeit.

Das Material, welches sich im Schatten angelagert hat, verschwindet nicht von alleine. Das bedeutet, es braucht eine bewusste Hervorholung. Diese Arbeit ist die eine Hälfte des inneren Weges.
Aus dem Schatten heraus wird selbst die Zuflucht zum göttlichen Paar unwirklich…. Die so genannte Souveränität, die einem das aufgeblähte Ich vorgibt, kann nicht wirklich beten und flehen…. und verkommt in Theorie-Gebäuden.

Es braucht viel Raum für Introspektion, damit man die unbewussten, verstossenen Teile wieder in den bewussten Bereich holen kann und ihnen somit die negative Ladung nehmen kann.
Der erste Schritt ist, den Schatten als etwas Reales anzuerkennen und sich einzugestehen, dass in einem Kräfte wirken, denen man nicht mächtig ist. Das gilt auch für Menschen auf dem spirituellen Pfad, die allzu oft annehmen, dass ihre spirituelle Praxis den Schatten auf irgendeine Art und Weise aufgelöst hätte, obwohl in Wirklichkeit der Schatten nur noch konsequenter verdrängt wurde. Jung formulierte es so: „Je heller das Ich-Ideal, umso dunkler der Schatten.“ Der Einfluss dieses einfachen Eingeständnisses ist profund. Es öffnet eine Tür zwischen den unbewussten und bewussten Anteilen im Bewusstsein.
Als nächstes folgt eine Bewusstwerdung des verdrängten Materials durch intensive Beobachtung des eigenen Verhaltens, der Muster, Fantasien, Reaktionen und Träume. Inwieweit ist das Innenleben im Einklang mit dem Äusseren? Drückt unser Leben natürlicherweise unsere Überzeugungen aus oder benutzt man den Willen, um sie umzusetzen? Ist es mit Anstrengung und Knorz verbunden?
Damit sich der Schatten nicht noch mehr im eigenen Unterbewussten einnistet, bedarf es bewusster Schattenarbeit. Das ist nicht ein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für alle.
Die Früchte davon sind eine Deaktivierung von eingefahrenen Reaktionsmustern, die Einkehr von Ruhe und Ausgeglichenheit und mehr Vitalität und Kreativität.
Man wird anderen und auch sich selbst gegenüber nachgiebiger und reibt sich nicht mehr an den Dingen, die einem stören könnten. Die Verurteilungen und starken Wertungen fallen weg, weil man mehr im eigenen Selbst verankert ist und daraus resultiert echte Toleranz und Akzeptanz.
Die Reaktionen auf den Fluss des Lebens werden weniger anstrengend.
Es wird derzeit viel über Lichtarbeit geredet. Aber eigentlich ginge es erst einmal um Schattenarbeit, denn ohne diese trifft man nicht auf Transzendenz, sondern nur das bedürftige Ich.
Vor vielen Jahren begleitete ich einen Aids Kranken Menschen in den Tod.

Ich gehe in einen Raum und da war dieser Mann, nur ein oder zwei Jahre älter als ich, er stirbt, wiegt nichts, ist dabei, zu erblinden. Und er schaut in den Spiegel und rezitiert positive Affirmationen »Meine Zähne wachsen jetzt nach. Meine Haut wird immer schöner...« Ich glaube, er starb zwei Wochen später. Das war das erste Mal, dass ich erkannte, wie gefährlich dieser „positiv-Denken-Ansatz ist. Dieser versucht, das Leben, wie es ist, zu negieren und Kontrolle darüber zu erlangen. Aber niemand erlangt das Licht, indem man sich schillernde Lichter vorstellt und von Heiligen schwärmt, sondern indem man zuerst einmal in den Untergrund geht und sich mit dem auseinandersetzt, was Jung den „Schatten“ nannte.

Im Folgenden möchte ich punktuell einige spezifische Schattenbereiche der spirituellen Praxis ansprechen.

Spiritualität als Droge

Erleuchtung ist nichts für Süchtige. Wir alle sind trickreiche Wesen, wenn es darum geht, das Ego zu stärken und Schmerz zu vermeiden. Leicht fällt da auch der Griff hin zur Spiritualität Ob im heiligen Gewand, als Yogi oder friedvoller Krieger: Scheinbar suchen wir nach der Wahrheit und merken nicht, dass wir auch auf dem spirituellen Weg einfach nur high werden wollen.

So wie manche Drogen als Flucht benutzt haben, verwenden andere auch Spiritualität als eine Flucht. Das Unangenehme kann umgangen werden. Der innere Weg ist eine gute Strategie, sich dem Schmerz des inneren Schattens nicht stellen zu müssen. Aber dann benützt man ihn genau in der Funktion als Droge.

Man will den Spass und das angenehme Gefühl, nicht aufgeben, der uns unser Suchtverhalten verschafft. So streitet man die innere Abhängigkeit intellektuell ab.
Der Kneipengänger und der spirituell Suchende haben hier sehr ähnliche Verhaltenszüge. Ein Süchtiger ist jemand, der sein Verhalten nutzt, um die Realität zu vermeiden und sie zu umgehen oder zu vereinfachen. Süchte sind nie statisch – entweder man setzt sich mit ihnen bewusst auseinander oder man versinkt tiefer in ihnen.
Sucht ist eine natürliche Reaktion auf emotionalen Schmerz und beginnt mit dem tief in uns verankerten Trieb hin zum Vergnügen und weg vom Leiden. Doch das Sekundärleiden, das sie auslöst, ist eigentlich noch tiefer. Um dieses von der Droge ausgelöste Leid nicht mehr fühlen zu müssen, nimmt man noch tiefer Zuflucht in der Sucht.
Die meisten übersehen die erste Droge, die man konsumiert, um emotionalen Schmerz abzuwehren: Versunken-sein in Gedanken.
Alle spirituellen Wege beginnen damit, diese zu erkennen, zu durchschauen und einen konkreten Weg heraus aufzuzeigen.
Die wiederkehrenden zwanghaften Denkmuster sind zu beobachten – erst das erlaubt einen, sie zu durchbrechen. Bei den anonymen Alkoholikern wird genau das als den ersten Schritt einer inneren Kapitulation betrachtet: das Eingeständnis, wirklich ein Problem zu haben. Bei jedem zwanghaften Verhalten ist Sucht am Werk.
Das süchtige Wesen ist auch nicht vertrieben, wenn man sich mit Spiritualität beschäftigt – es hat nur einen anderen Lebensraum gefunden. Und es findet sich darin erstaunlich gut zurecht.

Ein Aspekt inneren Suchtverhaltens ist die Neigung für kurzfristige Lösungen. Inzwischen konsumiert man auch spirituelle Themen hübsch verpackt zum Sofort-Verzehr. Aber hat es echten Wert?
Aus diesem Ansatz heraus glaubt man, man könne die im inneren verborgenen unbewussten Muster mit einer Formel, einem Workshop oder einer Zauberpackung schnell herangehen und dann auf diese Weise lösen.
Ein Buch, ein Vortrag, Gemeinschaft oder ein Retreat können erhebend wirken, und dieses Hoch kann auch einige Zeit andauern. Doch auf das Strohfeuer des Hurra-Faktors ist kein effektiver Verlass. Jede gründliche Veränderung ist ein Prozess und nicht ein Ereignis. Der Sucht-Aspekt in einem will die Arbeit umgehen und glaubt sogar, dass es möglich ist, ans Ziel zu gelangen ohne einzutauchen, ohne aufrichtige introspektive Bestandesaufnahme und ohne aufzuräumen.
Die Komfortzone des Angewöhnten, die auch das spirituelle Leben als Arrangierung für das bessere Wohlgefühl versteht, lässt einen die Spur der innersten Unzufriedenheit nicht wirklich verfolgen…Gerade ihr muss ich aber achtsam begegnen, um das Heilige nicht als Betäubung und Sucht zu benützen.
Angesichts von Schmerzen kann es verführerisch sein, Spiritualität als Notausgang zu nutzen.
Es gibt Menschen, die in solch einer Motivation täglich intensive Rituale und Meditationen praktizieren, aus denen aber auch nur weiteres Abstumpfen resultieren wird, denn das ist die natürliche Folge der Sucht.

Ein echter spiritueller Pfad führt nicht einfach nur ins „Besser-fühlen“ – das wäre die Wohlfühl-Spiritualität, sondern effektiv auch auf lange Strecken der Begegnung mit dem Schmerz, mit allen alten Wunden und Stellen der Nicht-Authentizität.
Wenn es von Anfang an nur Frieden ohne Unbequemlichkeit gibt, dann wird der Schatten dadurch fast immer umgangen. Und das ist eigentlich doppelt bedauerlich: Man hat nicht nur eine Gelegenheit verpasst, die Verwundung eines Schmerzes zu heilen, sondern hat zudem auch noch willentlich das Ego unter dem Deckmantel der spirituellen Erwachung gestärkt.

Es ist eine Tatsache, dass es uns Tiefe verleiht, wenn man sich dem Leiden stellt. Das Gegenteil beschert Neurosen und schwere Charakterdefizite.
Spirituelle Praxis und nicht untersuchtes Suchtverhalten können nicht nebeneinander existieren.


Was wird durch diese innere Drogensucht verdeckt?


Ein innerer Mangel. Tatsächlich ist die Begegnung mit diesem Mangel alles andere als nüchtern. Ein "schwarzes Loch" tut sich auf, und das ist mit Schmerz verbunden. Wir aber sind Schmerzvermeider. Wir haben gelernt, dass Schmerz unserem Funktionieren in der Welt entgegensteht. Um die unangenehme Begegnung mit dem inneren Loch zu vermeiden, erschafft der Geist eine neue Phantasie, in die er sich verlieben kann in der Außenwelt. Fast alle Menschen verbringen ihr Leben damit, das innere Loch mit äußeren Befriedigungen wie Vergnügen, Erfolg, Macht, Ruhm, oder Beziehungen - mit Ersatzliebe zu füllen. Die meisten Beziehungen sind Ausdruck eines Lebens in Außenweltwünschen und in der Ersatzliebe. Doch dieses Loch in uns ist ein Loch ohne Boden. Es ist nicht füllbar von außen.

Swami Sadananda, der vor 80 Jahren von Bhaktisiddhanta Sarasvati Thakur Sannyas bekommen hatte, schrieb in einem Brief an Walter Eidlitz anfangs 1961:

„Sie müssen sich nicht zu sehr betrüben, wenn Leutchen wie der "…" die faulen Fische der Oberfläche wegfischt - wenn die blöde Anhimmelung der sogenannten "Indischen" so weit geht und Leutchen so blöd sind, zu meinen und zu glauben, dass irgendein "Mantra" ohne Kraft und ohne blasse Ahnung davon, wer, was und wo Bhagavan ist und wer es ist, der zu Ihm geführt werden soll, auch nur mehr als eine Kuriosität sein kann, so wie die Fremden eben Tigerklauen und Taj-Mahal-Reliquien als Andenken sich erwerben. Wir wollen ernste Menschen, die ehrlich suchen, erkennen und glauben können…- und die erkennen, das jede Art von Ausschlachten-Wollen eben Irrtum ist - aber nicht Geisteskranke und Leute, die besser erst den Psychiater konsultieren sollten. Man muss zuerst ein integrierter Mensch geworden sein und dann nach Bhakti verlangen.“

Allerdings gab es damals nicht anders als heute immer nur wenige Menschen, die in den Weisheitsschriften Indiens mehr als Exotisches, Erbauliches oder eine neue Möglichkeit der romantischen Weltflucht suchten. So fährt Sadananda im selben Brief fort:

Ich weiß, dass wir drei darüber klar sind, doch werden wir missverstanden von denen, die eigentlich Bhakti gar nicht wollen, sondern unbefriedigt von anderen Arten Eskapismus, sich nun einer neuen Flucht zuwenden und den ganzen Herzensdreck mitbringen und behalten wollen. [...]

Und in einem anderen Brief:

„Alle sehnen sich nach anderem, nur nicht nach innerer Freiheit, alle wollen Sklaven bleiben, nur die Gewänder vertauschen und Ketten wechseln, niemand sie ablegen.
Selbst Krishna interferiert nicht mit der Freiheit des Menschen – es ist jeder frei, den Irrweg, Abweg, Umweg zu gehen – und ich sehe nicht ein, – woher wir die Anmaßung nehmen wollen oder sollen, andere von Irr-, Ab- und Umwegen abzuhalten, wenn andere eben darauf bestehen.
Jeder von Ihnen muss genauso natürlich und frei sein innerlich, wie Sie es vor meiner Ankunft sind, ich liebe die Spontaneität, ich meide die Künstelei. Ich komme nicht, um in Euren Seelen herumzustochern, sondern jeder, so, wie er ist, mit seinen Fehlern und mit seinen Tugenden, muss in der Seva sich frei entfalten und auswirken.“


1964 formuliert Sadananda das Fazit seiner Erlebnisse im Zusammenhang mit der „Verbreitung der Bhakti“ wie folgt:

„Meine Erfahrungen in Indien und Europa haben mich gelehrt sehr vorsichtig zu sein, von Dingen zu sprechen oder zu lesen zu geben, für die die Voraussetzungen fehlen, denn sonst endet alles in Spaltpersönlichkeit, Mystik und erbaulicher Verschwommenheit. Nur wer ganz sachlich klar denkt und sich benimmt, kann mit und mit vorwärtskommen. Bhakti beginnt nicht mit Geleitetwerden, sondern mit der eigenen Initiative, dienen zu wollen, aber nicht SO wie man SELBER will, sondern SO, wie Bhakti es sagt.
Den Menschen ein intellektuelles Appetitbrötchen zu verabreichen, damit sie es verzehren, ist mir die Bhakti zu gut. Hier in der Schweiz habe ich jedenfalls gesehen, dass die Menschen starke Kost weder mögen noch ablehnen, sondern sie einfach satt zu Boden tröpfeln lassen.“

„Spaltpersönlichkeit und Mystik“ – genau dies beobachtete er dann bei den Mitgliedern der Bhaktimission, die Ende der 60iger auch in Europa sich verbreitete. Dies schien ihm all dem, was die heiligen Schriften und sein Guru, Bhaktisiddhanta Sarasvati Prabhupada, ihn gelehrt hatten, zuwiderzulaufen.
Er beobachtete die seelische Abhängigkeit, in welche die Jünger dieser Mission gerieten, ihre „Ekstasen“ statt sachlichem und korrektem Wissen, die Betonung äußere Form statt der Verinnerlichung der Substanz der Bhakti-Lehre und der Mangel an „ehrlichem freien Mensch-Sein“:
„Die „Bhaktas“, die wir in Indien oder hier (?) treffen, versuchen in eine Lebens- und Denkweise hineinzukriechen wie in die starre, leblose Form einer Larve, um sich dort sicher fühlen zu können, um das „Bewusstsein“ einer metaphysischen Existenz-Sicherheit zu haben. Das ist ja alles Feigheit und Selbstbetrug und Täuschung anderer. […] Jede Versklavung eines Wesens ist ein Verbrechen. Wollte Krishna, dass alle Krishna –Bhaktas sein sollen, dann brauchte Er als Paramatma-Computer ja nur einen Schalter anzudrehen, damit jeder oder alle atmas sich freiwillig, ohne sichtliche Nötigung, auf Bhakti ausrichten. (1971).“

Guru als Vater-Ersatz

In einer ungesicherten Welt tragen Menschen die Sehnsucht nach Geborgenheit in sich. Diese ursprüngliche Sehnsucht nach Wahrheit und Substanz, in der man erst Aufgehobenheit erleben kann, wird im infantilen Stadium unserer Entwicklung zuerst einmal auf die Eltern übertragen.

Die Eltern in Frage zu stellen bedeutet für das Kind die innerste Verlorenheit. Diese Struktur wird dann schnell auch auf die spirituelle Autorität, auf den Lehrer übertragen. Da werden dann alle Anzeichen eines allfälligen unkorrekten Verhaltens übertüncht und abgetan. Die Schüler ziehen es meist vor, sich selber anzuzweifeln, bevor sie das idealisierte Bild des Guru in Frage stellen.
Ich habe viele Menschen getroffen, die von spirituellen Lehrern missbraucht worden waren, aber selbst nach solchen Erfahrungen noch immer nicht von ihm abliessen und das unehrliche Verhalten noch immer beschönigten.
Erleuchtete Lehrer, die ihre Persönlichkeitsverzerrungen effektiv durchgearbeitet haben, kommen offensichtlich sehr selten vor. Das kann eine wertvolle Erkenntnis in Bezug auf die Aufrechterhaltung eigener Grenzen sein und zur inneren Vorsicht mahnen. Dann kann man auch die Vorzüge eines Lehrers oder einer Lehrerin annehmen, ohne sich ihm oder ihr völlig zu ergeben. Man behält aus Vertrauen in das Wahre eine innere Vorsicht bei und beobachtet genau. So übernimmt man zur Inspiration, welche diese Person einen vermittelt, nicht auch gleich noch die Fragwürdigkeit und das spirituell Ungesunde in sich auf. So kann man auch die Reinheit einer Lehre unterscheiden von kulturellen Folkloren, die im Verlaufe von Jahrhunderten darunter gemischt wurden und auch von der persönlichen Egozentrik des Vermittelnden.

Man glaubt, der Guru würde das Innerste von einem wahrnehmen können. Das Gefühl, gesehen zu werden, lässt einen bedeutsam erscheinen. Das ist wahrscheinlich ein fundamentaler Irrtum, der in manchem Traditionen sogar bis hin zur Allwissenheit des Guru hochstilisiert wird, der sämtliche Leben des Schülers auf einen Blick durchschauen würde. Gemäss Vedanta-sutra gibt es drei grundlegende Unterschiede zwischen einer befreiten Seele und Gott. Die Allwissenheit ist nur Gott vorbehalten.
Aus der Perspektive, dass der Guru alles in einem sehen würde, glaubt man, dass all seine Unterweisungen, auch jene, welche das innerweltliche Leben betreffen, absolut zu nehmen seien. Und das führt in die Verwirrung und letztlich in die Anschauung, dass der Guru die Arbeit für einen ausführe und dass man sich einfach ergeben in seiner Nähe aufhalten müsse.
Es ist nicht weise, die praktische Lebensplanung von einem spirituellen Lehrer bestimmen zu lassen. Es wäre eine Übertragung eines Vater-Bildes auf den Guru und man regrediert dabei selber in die Rolle eines hilflosen Kindes, dem gesagt werden müsse, was es zu tun habe.

Zudem gibt es sicher einige Menschen im eigenen Umfeld, die einen besser kennen und aufrichtig ein Echo geben können, das wahrscheinlich gewichtiger ist als Ratschläge einer Person, die einen persönlich vielleicht gar nicht wirklich kennt. Der Wert einer Unterweisung und eines Ratschlages muss zudem innerlich abgewogen werden und soll nicht idealisiert werden, nur weil es von einem spirituellen Lehrer stammt. Auch gibt es kulturelle Unterschiede, die man zuerst entziffern lernen muss, wenn der Lehrer aus einem anderen Kulturkontext stammt. Sonst übernimmt man eine exotische Folklore und verknüpft sie mit innerer Essenz.
Krishna spricht in der Bhagavad Gita (4.20) von einem Übenden auf dem Pfad zur Ewigkeit. Er soll unbedingt „nirashraya“ ohne weltliche Anlehnung, ohne Zuflucht im Zeitweiligen, sein. Mit anderen Worten soll man nie die Verantwortung für den inneren Pfad aufgeben. Die harte Arbeit der spirituellen Praxis und des Durchbrechens des Widerstandes liegt ganz bei einem selber. Man darf nicht warten, bis dass ein Guru mit magischer Hand seine Wunder an einem tut. Denn sonst würde man sich irgendwann enttäuscht abwenden.

Man muss spirituelle Lehrer genau prüfen – speziell auf die Diskrepanz dessen, was sie lehren und in ihrem persönlichen Alltag effektiv auch leben. Der Idealismus, der Hunger nach spiritueller Wahrheit und das eigene Bedürfnis nach Vollkommenem werden durch Projektion schnell übertragen auf spirituelle Lehrer. Aber die Blau-Äugigkeit der Idealisierung bringt einem der Wahrheit nicht näher, sondern ist ein Anzeichen dafür, dass man nicht wirklich an das Wahre glaubt und sich deshalb an dem Schein der Wahrheit festklammert und dies eben nicht mehr in Frage stellen möchte.

Es geht auch nicht nur um den Guru, sondern ebenfalls um den Schüler. Die unbewussten Motive des Suchenden werden einem zu einem Guru hinführen (in der Tradition spricht man vom „sukriti“, den inneren Eindrücken, die die Seele bereits in dieses Leben mit hineinbringt.).
Der Suchende muss sich tief fragen und sich damit befassen, warum er einen Lehrer sucht. Denn das wird bestimmen, was für einen Lehrer man erhalten wird.

Ich habe Männer und Frauen kennen gelernt, die zu aussergewöhnlichen Dingen in der Lage waren. Wahrsager, die in der ersten Sitzung genaueste Beschreibungen meiner Kindheit ablieferten, Yogis, die Objekte über enorme Entfernungen verrücken konnten, Sadhus, die einfach durch ihre Gegenwart eine ungeheure Energie in mir auslösten… Alles Dinge, die ich nicht einmal glauben würde, hätte ich sie nicht selber erlebt. In der Rückschau auf all diese Ereignisse hat aber keines eine Transformation ausgelöst oder mein Verständnis erweitert. Sie haben mich letztlich nur abhängiger gemacht von der Zaubershow, aber nichts getan, um mein schmerzhaftes Verlangen nach Gelassenheit und tiefem Verstehen zu lindern. Es hat mich dem Verständnis der Transzendenz und meiner Seele nicht näher gebracht. Es waren nur unnötige Umwege zum Selbst und zur Beziehung zu Gott. Aber in einer solchen Umgebung geschieht es schnell, dass man sich an eine Persönlichkeit festbinden möchte.


1961, als Sadananda nach gut dreißig Jahren Lebens als Bettelmönch in Indien schließlich durch die Unterstützung eines Freundeskreises in Basel lebt, von langer Krankheit langsam gesundet und in kleinem Kreis beginnt, Übersetzungen aus den heiligen Schriften zu diktieren und zu erklären, schreibt er an Walter Eidlitz und dessen Frau Hella:

„Übrigens habe ich X. und anderen in einem Brief letzten Jahres so deutlich geschrieben, dass man sich vorstellen solle, man sei in einer Wüste ohne Vamandas, Hella und Sadananda, und versuchen ohne Bindung an eine Person sich an das zu halten, was die die heiligen Texte aussagen und wir nur weitergeben.
Das scheint aber niemand beachtet zu haben. Persönlichkeitsbindung ist
der Tod, deshalb ziehen sich die echten Gurus immer wieder zurück oder schicken die Schüler fort, damit sie schon lernen, sich aus sich selbst unter der Bhaktikraft zu entwickeln.“

„Persönlichkeitsbindung ist der Tod“ – das sind harte Worte. Was dahinter steht ist die Tatsache, dass ein echter Guru Schüler nie an sich als Person bindet, sondern sich immer nur als Mittler des göttlichen Wortes und der Bhaktikraft weiß, denen allein er dient. Deshalb warnt er Walter Eidlitz, der begonnen hatte, zusätzlich zu seinen Büchern auch Vorträge und Kurse zu geben:

„Es ist so unerhört wichtig, dass die Menschen durch Sie hindurch zu Krishna kommen und nicht um Ihretwillen zu Ihnen halten und bei Ihnen stehen bleiben – Ihre starke, edle Persönlichkeit ist eine Gefahr […].“


Doch die Bindung an die menschliche Person des Lehrers ist nicht nur für den Schüler eine Gefahr, sondern auch für den Lehrer.

„Sobald wir, Vamandas, Hella, ich uns anhimmeln lassen oder gar es uns
gefällt, wenn die Leute uns loben und uns anhimmeln, ist es vorbei mit
unser Bhakti – dann geht es uns so wie den Tausenden […] !! Gurudevas [Bhaktisiddhanta Sarasvati Prabhupadas] Kraft schwindet und wir sind armselige Irre. Diese Gefahr besteht immer und endet in Effekthascherei.“


Der echte Lehrer durchschaut diese Strukturen und fördert sie nicht noch im Namen von guru-nishta (Vertrauen in den Lehrer). Ganz sanft und dann auch mit heiliger Rücksichtslosigkeit (Srila Sridhara Maharaja sprach von „aggressive grace“) demontiert er uns von unseren vermeintlichen Sicherheiten. Der Wahrheit willen. Abhängigkeitserfahrungen in disfunktionalem religiösem Kontext tun weh – lernen einen aber, die Verantwortung für das Innenleben nicht einfach anderen Personen abzugeben.
Die Kräfte und das Charisma eines spirituellen Lehrers können manchmal auf beunruhigende Weise ablenken. Die Verführung, sich von den heilenden und scheinbar übersinnlichen Fähigkeiten des Lehrers wegzaubern zu lassen, ist gross.



Überhebung

Spirituelle Kreise neigen dazu, ihre eigenen Bewertungen nicht zu erkennen. Egal ob unterschwellig oder offensichtlich und völlig unabhängig von der Konfession gibt es den bewussten und unbewussten Glauben, dass der eigene Weg der überragendste sei und dass die anderen zumindest noch viel lernen könnten von einem. Die Entgleisung kann sich noch weiter ziehen im Glauben, dadurch selber ein besserer Mensch zu sein.
Gerade aufgeklärte Menschen unserer Zeit betrachten diese Überhebung von „spirituellen Menschen“ mit Bedenken.

Die Stützräder am Fahrrad waren dazu da, das lernende Kind vor dem Sturz zu bewahren. Man behält sie nicht am Fahrrad, nachdem man gelernt hat, die Balance zu halten. Man vergoldet sie auch nicht oder verehrt sie auf einem Altar. Man baut sie einfach wieder ab und fährt ohne sie weiter.
Götzenverehrung – die Versteifung auf und die Idealisierung dessen, was längst wieder abgelegt werden darf und für einen Teil der Wegstrecke einmal dienlich war, ist ein wesentliches Hindernis auf dem inneren Weg.
Was ist Essenz und was ist Stützrad auf dem Weg der Bhakti? Die Verdrehung entsteht, wenn man Stützräder für Essenz, Form als Inhalt betrachtet und diese auch entsprechend verteidigt, wenn sie in Frage gestellt wird.

Wenn ein Lehrer oder eine Tradition die eigene Überlegenheit betont, ist das schon ein wesentliches Anzeichen von der Verwechslung von Form und Essenz.

Wir belächeln leicht den grotesken Führerkult in Nordkorea – aber gleich um die Ecke lesen wir von den Lebensbanalitäten unserer Stars in den Zeitschriften und in spirituellen Kreisen geht man sentimental schwärmerisch mit spirituellen Lehrern um. Sehr schnell werden skurrile Verhaltensformen, die man in der säkularen Welt belächeln würde, im spirituellen Kontext genauso kopiert und dann einfach mit einem „heiligen“ Inhalt gerechtfertigt.

Man mag auf dem inneren Weg schnell aussergewöhnliche Erfahrungen geschenkt bekommen, die Gegenwart von Wesentlichem ahnen und Einheits-Erlebnisse empfinden.

Als wir Süchtige waren, wussten wir, wir haben ein Problem. Und wenn Leute uns ansahen, wussten sie auch, dass wir ein Problem haben. Und du und ich wir hatten Kundalini-Erfahrungen, Einheits-Erlebnisse. Man muss aber über die Tendenz des Ichs gewahr bleiben, die diese Dinge für sich einvernehmen möchte. Ein Heroinsüchtiger weiß wenigstens, dass er ein Problem hat, aber wenn man eine Einheits-Erfahrung hat, versteckt sich das Ego darunter und fühlt sich insgeheim als was Besonderes.
Mit einem Fuß stehst du in der Heiligkeits-Erfahrung, mit dem anderen im Ego.

Das Ich, das die Umwelt retten will, ist das gleiche Ich, das sie zerstört. Das Ich, das ein Heiler sein will, ist das gleiche Ich, das durch seine Selbstsucht all die Schmerzen verursacht.
Das Ego kommt zur Spiritualität und denkt, es könne dadurch machtvoller und einflussreicher werden. Sein Interesse ist es, seine Domäne zu erweitern. Aber die geistige Arbeit ist die Guillotine für das Ich. Im Ansatz des positiv Denkens versucht, den Willen zu benutzen, um Dinge zu bewerkstelligen. Aber bei der Spiritualität geht es gerade um Hingabe und darum, den kleinen Willen gehen zu lassen. Wir sind eben alle Kontroll-Freaks und wir haben Angst. Und das erzeugt eine Art spirituelle Sub-Persönlichkeit innerhalb des Egos.

Jedes spirituelle Erlebnis und die kleinste Erfahrung auf dem inneren Weg werden auch vom Ego eingenommen. Es reisst sich die kleinste Erkenntnis unter den Nagel und erhebt sich dadurch. Es wurde nun sogar spirituell aufgewertet.
Gerade solche Menschen sträuben sich oft gegen jegliche psychologische Arbeit, weil sie meinen, sie wären jenseits solch trivialer Angelegenheiten.


Wenn der Weg zur Identifikation wird....

Eigentlich geht es doch um die Annäherung zu Gott, um die Intimität mit Krishna. Der Weg, den wir gehen, die spirituelle Praxis, soll dies ermöglichen, soll uns dahin führen; er kann es aber auch verhindern, kann einen sogar noch weiter in die Gottes-Isolation hinaustreiben. Es ist eine Frage der verborgenen Absicht und nicht dessen, was mit dem Körper getan wird oder welcher Tradition man sich anschliesst.
Um heiliger Gnade, Gottes Wunsch, mich zu beschenken, wirklich Raum zu lassen, muss vor allem meinen Anspruch, zu den Besseren, den Heldenhaften, den Auserwählten, den Heiligen und Besonderen zu gehören, total aufgelöst werden. Gerade der grösste spiritueller "Fortschritt" kann sich als grösste Verführung erweisen.
Wenn dieser Egoismus mit hohen spirituellen Idealen vermischt wird, kann das Gemenge unverdaulich sein.
Auch in unserer säkulären Zeit haben die meisten Menschen noch ein sehr feines Gespür, um falsche oder doppelte Motivationen in religiösen Praktikanten festzustellen, und werden somit in ihrer Gleichgültigkeit Gott gegenüber bestätigt. Oberflächliche und nicht verinnerlichte Religiösität führt zu Atheismus.
Eine andere Art, wie viele spirituelle Praktikanten auf dem Weg stehen bleiben, ist zu denken, man hätte Wahrheit nun gefunden. Dann wird unter dem Vorwand zu glauben, man wäre in der Nähe Gottes, eine starke Stumpfheit generiert.
Viele Menschen missbrauchen heilige Texte und spirituelles Wissen, um sich zu entfernen - von Gott und auch im Zugang von sich selbst. Man hat aus dem Weg eine religiöse Identifikation konstruiert.

Es ist nicht so, dass man einfach einen spirituellen Weg begeht... das Problem ist, dass unser Geist, in seiner Tätigkeit als Jäger und Sammler, einen riesigen Rucksack gefüllt mit den alten Vorstellungen und Prägungen (Samskaras) und Identifikationen mit dem Zeitweiligen mit sich trägt. Eben Brillen, die die klare Sicht dem Heiligen gegenüber verzerren.
Man betrachtet den inneren weg noch immer als einen Weg des Hinzugewinnens und Trophäen-Sammelns und nicht des Gehenslassens und Verneigens.

Es hat nicht gereicht, dass man bereits geistiges Gepäck aus der Vergangenheit mit sich hatte, dass man emotional schon beladen ist, dass man einen materiellen Körper als Identifikationsobjekt herumträgt, dass man sich in Schichten von falschen Identitäten als Familie-, Staat-, und Erdenbürger einhüllte... Jetzt kommen auch noch die spirituellen Identifikationen dazu (sarvopadi vinirmuktam... Im Narada Pancaratna wird bhakti definiert als das vollkommene Abstreifen all dessen, was nicht zur Svarupa - der ewigen Form der Seele zugehörig ist. Das ist auch die Definition von Mukti - Befreiung, die das Bhagavatam gibt: 2.10.6)

Das Gepäck wird immer schwerer und das ursprüngliche Begehen eines Weges wird immer mühsamer und beschwerlicher. Irgendwann wird man sogar anhalten zu gehen - bricht zusammen unter der Last des Angesammelten.

Wir leiden nicht daran, dass wir die Wahrheit nicht finden - wir leiden daran, dass wir das, was uns hindert, die Wahrheit zu erkennen, nicht aufgeben und nicht einmal anschauen wollen.
Denn nur wer sich frei von allem Dharma (von allen Tätigkeiten und Aufgaben) macht, indem er sich nicht mehr mit demselben identifiziert, kann mit einer transzendentalen Mentalität sein Dharma erfüllen.
Doch wenn man Menschen eine Last indischem Verhalten und Folklore anbietet, und ihnen eine religiöse Folklore-Identität aufbürdet, wird nicht die Leichtigkeit der Seele die Erfahrung sein, sondern nur die Belastung, die den ursprünglichen Samen der Gottesliebe zum Ersticken bringen wird.

Warum zieht man sich immer zurück wenn es intensiv wird und lässt das Feuer erkalten…. Das bedeutet, dass es Dinge gibt im eigenen Leben, die einen wesentlicher sind. In der Prioritätenverschiebung und Prioritätenverwechslung ist kein inneres Leben möglich.

Lass dich einfach mit in die Tiefe reissen… das erzeugt gleichzeitig Angst und doch drängt das Vertrauen genau dazu.
Das innerste Herzens-Ja lädt mich dazu ein.
Da wird der Geist aktiv und zur gleichen Zeit taucht eine bleierne Müdigkeit auf. Das ist natürlich.




Schlussgedanke

Sehr schnell kann man sich auch wieder verirren in den Betrachtungen eigener Schwerheit und Schatten. Eigentlich ist es endlos.

Eligius Leclerc schreibt in einer Abhandlung über das Leben des Franziskus sehr schön über diese gleichzeitige positive Ausrichtung.


Franziskus fragte Bruder Leo, was er unter einem reinen Herz verstehe.
„Wenn man sich nichts vorzuwerfen hat“, antwortete Leo ohne lange zu überlegen.
„Dann verstehe ich, dass du dich schwermütig fühlst, denn irgendetwas kann man sich immer vorwerfen.“
„Eben, und deshalb habe ich die Hoffnung auf ein reines Leben schon fast aufgegeben.“
„Bruder Leo, kümmere dich nicht so sehr um die Reinheit des Herzens. Sieh auf Gott. Bewundere ihn. Freue dich, dass es ihn gibt, ihn, den ganz und gar Heiligen. Danke ihm um seiner selbst willen. Eben das, mein Bruder, heisst ein reines Herz zu haben.
Und wenn du dich so Gott zugewandt hast, wende dich nun nicht mehr auf dich selbst zurück. Die Trauer darüber, dass man nicht vollkommen ist und dass man dunkle Dinge in sich entdeckt, ist ein noch menschliches, ein allzu menschliches Gefühl. Du darfst den Blick nun höher, viel höher heben. Es gibt Gott, es gibt die Unendlichkeit Gottes und seine unwandelbare Herrlichkeit. Ein Herz ist rein, wenn es nicht ablässt, den lebendigen und wahren Herrn anzubeten. Zu loben. Es nimmt tiefen Anteil an Gottes Leben und das ist so stark, dass es sich noch in all seinem Elend von der ewigen Unschuld und er ewigen Freude Gottes anrühren lässt. Ein solches Herz ist zugleich leer und übervoll. Dass Gott Gott ist, genügt. Aus solcher Gewissheit schöpft das Herz all seinen Frieden und all seine Freude.“


Heiligkeit besteht nicht darin, dass man sich selbst bemüht und vollkommen wird, und auch nicht in der Erfüllung, die man sich selbst verschafft. Heiligkeit ist zuerst einmal Leere, die man in sich vorfindet, die man akzeptiert und die Gott in eben dem Masse ausfüllt, in dem man sich seiner Fülle öffnet. Gott macht sich zum Himmel in seinem Herzen.
Die Forderung der Gotteszuwendung lautet: Sich in die Herrlichkeit Gottes betrachtend versenken; staunend entdecken, dass Gott Gott ist, über alles hinaus, was wir sind und sein können. Sich von ganzem Herzen freuen, dass er existiert und sich für seine ewige Jugend begeistern, ihm danksagen um seiner selbst und um seiner nie versagenden Barmherzigkeit willen. Das heisst, ein reines Herz zu haben. Aber zu dieser Reinheit kommt man nicht dadurch, dass man sich plagt und abrackert und glaubt, zuerst noch das innere Feld vorbereiten zu müssen.
Das ist das Sich-selber-Aufgeben. Nichts behalten wollen. Auch nicht die eigene Schwerheit der Vergangenheit und sie nun auch nicht mehr unter die Lupe nehmen zu wollen. Es geht nicht darum, reinen Tisch zu machen, sondern um sich wirklich auszuliefern und die eigene Armseligkeit zu akzeptieren, damit sie Gott beschenken kann. Alle Last abwerfen, sogar die unserer eigenen Fehler. Sich nur noch die Herrlichkeit des Herrn vor Augen halten und sich ihrer Strahlung aussetzen. Gott existiert, das genügt. Dann wird das Herz leicht. Es fühlt sich selbst nicht mehr, wie die Lerche, die glückstrunken im Blau des weiten Himmels schwebt. Das Herz hat alle Sorge und alle Unruhe von sich getan. Sein Verlangen nach Vollkommenheit hat sich in ein einfaches, reines Ja zu Gott verwandelt.


Krishnas Gnade scheint nicht wie die Sonne ohne unser Zutun und ohne unser Fragen. Er will, dass seine Güte den Weg durch das freiwillig geöffnete Herz geht.


Wir erleben uns immer wieder anders..... das Selbstbild von uns ist ständig im Wandel. Manchmal fühlt man sich so lebendig und dann kommen wieder traurige Perioden. Diese Wahrnehmungen hängen nicht einmal ab von den erlebten Gegebenheiten. Man weiss auch nicht, woher diese Stimmungen kommen.
Man fühlt sich erfüllt von Dankbarkeit und im nächsten Augenblick überkommt einen Ärger und Wut, ohne Vorwarnung. Beide Stimmungen scheinen ohne Zusammenhang in uns zu gelangen. Sie tauchen wie willkürlich auf.
Man glaubt, nun wirklich von Freude erfüllt zu sein, aber ohne dass man es merkt, ist man von Sorge besetzt. Oder man meint, jetzt hätte man es geschafft, endlich Vertrauen in s Leben, zu sich Selbst und zu Gott gefunden zu haben. Und schon im nächsten Augenblick ist man wieder voller Angst und das gesamte Vertrauen scheint wie verflogen und unerreichbar weit weg. Man denkt, dass das Vertrauen vielleicht nur Einbildung war.

Das Wesen ist wirklich unberechenbar und es gibt Anteile in uns, die wir nicht in Kontrolle haben, die uns immer wieder überraschen. Hoffnungslosigkeit und Zuversicht, Glauben und Zweifel, Angst und Vertrauen - sie gehören in uns noch zusammen.
Dieses Vierlerlei, das beziehungslos in uns liegt, stellt uns die Frage, wer wir eigentlich sind. Sind wir die, die vertrauen können oder die, die voller Angst sind?

Wir sind der Kern, der alles zusammenhält. Die ewige Seele, die immer tiefer ist als das, was man erlebt...

Die Lösung ist nicht, die Gegensätze auszuschalten, sondern die innere Spannung auszuhalten. Ganz still. Dann erfährt man sich tiefer als die Gegensätzlichkeit. Die vorbeiziehenden Phänomene werden tolerierbar, wenn man sich selber nicht als Teil der Polarität betrachtet. Der Drang des Reagierens auf die Zustände oder des inneren Antwortens auf diese Umstände manifestiert sich erst, wenn man sich als mit der einen Seite der fluktuierenden Polarität identifiziert.

In uns drin ist etwas, was nie zugrunde geht, etwas viel Würdevolleres, als wir es uns gedacht hätten.

17. November 2011

Der Weg des Zweifelns

Die Suche nach Echtheit und Tiefe

Religiöser Glaube und Zweifel scheinen sich auf den ersten Blick gegenseitig
auszuschliessen. Wer wirklich glaubt und vertraut, zweifelt nicht. Und wer ernsthaft zweifelt, kommt nicht zum Glauben.
Für diejenigen, die an Gott glauben, scheint der Ansatz, Gottes Existenz grundlegend in Frage zu stellen, irrelevant, ein Zurückgehen oder vielleicht sogar Apostase - den Abfall vom wahren Glauben. Zweifel wird als die Gefährdung des im ersten Gebot geforderten Gehorsams gegen Gott verstanden.

Dieser Ausschluss des Zweifels aus dem Feld des Heiligen führt zu einer Verkrampftheit in religiösen Anschauungen. Und weil aufgeweckte Menschen unserer Zeit diese Last nicht mehr tragen möchten, hat es sie in die religiöse Gleichgültigkeit getrieben. Wenn die Zweifel nicht willkommen waren, dann nimmt man halt Abstand von dem Bereich, welchen man so sakrosankt und erhaben nicht sehen konnte.
Die Folgen von Denkverboten sind ja bei vielen Religionen offensichtlich: Das Denken wurde mehr oder weniger durch das Glauben ersetzt.

Das Ergebnis sind Dogmen und Wahrnehmungen, die mit der Realität immer weniger zu tun haben. Da wurde die Religion, eigentlich intendiert als Instrument zur Ablegung aller Täuschungen, selber zu einer Vernebelung. Wenn die Vernunft die Offenbarung nicht mittragend unterstützt, existiert eine Tendenz zur Unvernünftigkeit.

In vielen Religionen wird dann die Leichtgläubigkeit (unüberlegtes Akzeptieren) als verdienstvoll angesehen und Zweifel und kritische Zurückhaltung gelten dagegen als sündhaft.

Die ersten Schritte der Gotteshingabe beinhalten gemäss Bhagavatam zwei essenzielle religiöse Prinzipien: Demut und das Streben nach Wahrheit. Demut ist das Eingeständnis, dass mein momentanes Bewusstsein und all meine Erkenntnis der Wahrheit noch ein Provisorium darstellen.... und die Suche nach Wahrheit hält einen für die Weiterführung auch effektiv offen.

Die echte religiöse Geisteshaltung weiss sich nicht nur der Vergangenheit verpflichtet (der eigenen Tradition), sondern auch der Gegenwart (der Weiterentwicklung des Glaubensinhaltes).
Ein religiöser Mensch ist nicht jemand, der immer und auf alles eine Antwort bereit hat. Dieses Phänomen existiert nur in der Anfangsphase, wenn der spirituell Reisende noch nicht das Ausmass der Wahrheit jenseits von Konzepten erfasst und berührt hat.
Er bleibt immer auf der Suche, ein Pilger, der seinen Weg zu finden hat, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Die vor ihm liegende Spur ist noch jungfräulich und unberührt. Der religiöse Mensch erlebt jeden Augenblick als neu und ist umso mehr erfreut, wenn er darin das erregende Schöne einer persönlichen Entdeckung und zugleich die Tiefen eines bleibenden Schatzes findet, den seine Glaubensvorfahren an ihn weitergegeben haben. Die Offenbarung wird durch die Eigenerfahrung bestätigt.

Das Feld der inneren Reise zu betreten stellt immer ein Wagnis und eine Herausforderung dar. Der religiöse Mensch betritt eine Arena ohne Vorurteile und ohne vorgefasste Konzepte. Er ist sich voll im Klaren darüber, dass er möglicherweise bestimmte Teile seines Glaubensbekenntnisses oder gar eine bestimmte Religion überhaupt aufgeben und verlieren wird. Er könnte dermassen anders werden, dass das angewöhnte Schlupfloch eigener Bequemlichkeit nicht mehr sein Zuhause sein könnte. Er vertraut der Wahrheit vollkommen. Sie führt ihn weiter. Er geht unbewaffnet hinein, bereit, selber ein anderer zu werden. Vielleicht wird er seine bisherige Identifikation verlieren, vielleicht wird er sein Leben verlieren – vielleicht wird er auch neu geboren werden.
Die Möglichkeit einer Bekehrung muss zugelassen werden – und sie kann so tiefgreifend sein, dass die Überzeugungen und Bekenntnisse, an denen man bisher festgehalten hat, sich vielleicht in Luft auflösen oder doch einem grundlegenden Wandel unterzogen werden. Das Unternehmen ist gefährlich und kaum jemand wäre dem gewachsen, wenn nicht aus dem Drang des Glaubens selbst heraus, der uns ermuntert, unser Leben furchtlos aufs Spiel zu setzen.

Der Imperativ der Infragestellung

Das Gegenteil von der Demut ist der Stolz - der Glauben, im Recht zu sein und die Fragezeichen nicht zu benötigen. Und das Gegenteil der Wahrheitssuche ist die Annahme, das eigene gemachte Bild, wie man die Wirklichkeit verstehen will.
Denn wäre das Antonym von Wahrheit die Falschheit, wäre es einfach. Dann wüsste man ja, dass es nicht der Wahrheit entspräche. Schwieriger wird es mit den Annahmen, die wir vielleicht sogar für wahr halten und sie als solche verteidigen. Philosophen (Wahrheitsliebende) haben uns immer wieder aufgefordert, sich von eigenen Annahmen und Vorurteilen zu distanzieren, die einem den Blick zur Wahrheit vernebeln.

Die Annahme, dass man jenseits von Zweifeln sei, widerspricht dem Geist aufrichtiger Wahrheitssuche.
René Descartes betrachtete im grundlegenden Anzweifeln des Subjekts (seiner Selbst) die
Grundlage alles Philosophierens und aller Wissenschaft einschliesslich des Verstehens des Gottesbegriffs.

Sri Chaitanya gab die Anweisung, sich vor seinem Lehrer als unwissend zu verstehen. Alles immer wieder neu zu erfassen. Denn wenn man wirklich akzeptiert, dass alles Wissen, was man erlernt hatte, vielleicht nur Vorurteile und Annahmen sein könnten, dann betritt man einen fruchtbaren Boden für den Vorgang, sich von Illusion zu befreien.
Die Grundhaltung eines Geweihten Gottes ist immer die, dass er sich als unbedeutend und unwissend versteht. Madhavendra Puri scheute sich vor Ehre, da er wirklich glaubte, sie nicht zu verdienen.

Arjuna spricht am Ende der Gita, dass seine Zweifel effektiv gelöst seien (18.73). Das ist ein Zustand kraftvoller Ermächtigung und nicht feigem Ausweichen von kritischen Punkten, aus Furcht, man könnte in der Konfrontation damit vielleicht seinen Glauben verlieren.
Viele sind einfach auch zu faul, sich den Zweifeln zu stellen, sie zu analysieren und dann eine Konsequenz darauf folgen zu lassen.

Eine realistische Selbsteinschätzung muss zumindest eingestehen, dass alles, was ich bisher als wahr befand, auch eine wirklichkeits-verzerrende Annahme der bedingten Natur sein könnte.
Dass dazu noch die Möglichkeit besteht, dass mein Verständnis einer göttlichen Offenbarung flach, dogmatisch und mit unsichtbaren Zweifeln gespickt ist, zu denen man erst einmal vordringen muss.

Das fordert mich auf, konstante Offenheit für Weiterführung, für die Wahrheit in mir zu tragen.
Reality check ist immer wieder gefordert… sonst geht es ganz schnell, dass man in Vorstellungswelten der Wahrheit gefangen bleibt, welche vielleicht gar nichts mehr mit ihr gemein haben.

Religiöses Zweifeln als Weg

Skeptizismus hat sich den absoluten Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen zum Prinzip gemacht. Es ist praktisch ein a priori Nicht-Glauben-Wollen. Dahingegen versteht die Methode des religiösen Zweifelns, des grundlegenden Infragestellens, einfach nur, dass all unsere Vorstellungen des Heiligen sich im Bereich des Provisoriums befinden und durch den Zweifel erst die Möglichkeit zur Vertiefung erfahren.
Ein wesentlicher Teil davon ist das „Zu-Ende-Denken“ des Zweifels. Man lässt sich ganz auf ihn ein und fragt sich, wohin er einen denn führen möchte.
Wenn ich alleine beim Rezitieren der Heiligen Gottesnamen verweile, dann kommen manchmal Zweifel:
"Stimmt denn das alles, was ich mir von Krishna denke, oder ist es nur Hoffnung, Projektion, Einbildung?
Stelle ich mir das so vor, weil es schön ist, weil ich damit besser leben kann, und weil ich sonst keine Aufgabe mehr hätte?

Wenn Zweifel nun so auftauchen, so müssen sie nicht gerade geklärt und beantwortet werden (die, die dies wollen sind die religiösen Dogmen, die gar nicht zuhören können, eingehen, sondern nur schnell - und damit auch vereinfacht - Lösungsvorschläge geben wollen). Echtes Vertrauen soll so stark sein, dass es auch die grössten In-Frage-Stellungen, eben Zweifel, aushalten kann und darf.

"Ja, es kann sein, dass alles nur Einbildung ist; alle religiöse Literatur ist der Ausweichversuch vor dem Nichts, die Beruhigung des Menschen, dass er die latente Sehnsucht auch irgendwie einordnen und erklären kann."

Im Zulassen wird auch der Zweifel kritisch untersucht, relativiert. Oft gehen wir anders mit ihnen um: sie werden sofort verdrängt, denn ich möchte ja glauben, es für wahr haben. Damit verdränge ich ihn in das Unbewusste, und ich spalte mich ab von einem Teil meines eigenen Selbstes.

Doch wenn ich selbst die existentiellsten Zweifel zu Ende denke, erkenne ich, dass ich eine noch tiefere Erkenntnis als nur oberflächliche Bekenntnisse suche. Er treibt mich in die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Göttlichen. Dann kommt eine tiefe Gewissheit in mir auf, dass ich überall Absicht, Gottes Hand, erkennen kann, und dass alles "Leben" nicht einfach ein kurzes Aufschreien in ein ewiges Nichts ist.
Ich beginne zu spüren, dass all die Heiligen nicht einfach Illusionen nachgelaufen sind, und dass alle Kultur nicht nur Nervenberuhigung ist.

Wenn ich aber die Zweifel, selbst die Option der völligen Absurdität zulasse, beginnt sich nicht nur diese innere Gewissheit zu manifestieren, sondern dann entscheide ich mich wieder bewusst für die Ergebenheit zu Gott, für die Hingabe zu Radha Krishna.
Ich möchte auf diese Karte setzen, ich möchte den selbstverwirklichten Sadhus folgen, die die Wahrheit gesehen haben, und nicht den Skeptikern, die in der Absurdität des Daseins eine Art und Weise finden, ihre Zeit herum zu bringen.

Dann ist mir der Zweifel zu einer Erneuerung meines Glaubensverständnisses geworden; er hält mich auf der Suche nach dem wahren Gott lebendig, und hilft mir, mich nicht vorschnell mit meiner Beziehung zu Krishna zufrieden zu geben, sondern ein wirklicher Suchender zu bleiben.
Wohin wollte mich der Zweifel verweisen? Auf Tiefe.


Religiöser Glaube und Zweifel

Die Gegensätze dieser Welt ergänzen sich in einer höheren Wirklichkeitssicht. In einer tieferen Wirklichkeit fallen die Gegensätze in eine umfassendere Einheit zusammen. Im Lateinischen nennt man dies „coincidentia oppositorum“.
Dies bedeutet praktisch, dass man sich von einseitiger Funktionsbestimmung der Religion frei zu machen hat: Religion dient nicht nur zur Stabilisierung des Denkens, sondern ist immer auch Provokation. Sie dient nicht nur der Bewältigung von Krisen, sondern kann auch schwere Erschütterung und Prüfung evozieren.

In spirituellen Kreisen wird oft angenommen, dass das Ziel eines Gottesweges die Eliminierung des Zweifels sein wird.
Doch wenn man sich wirklich auf die Einladung Gottes einlässt, erfährt man, dass
sowohl der intellektuelle als auch der existentielle Zweifel an religiösen Glaubenssätzen ein unaustilgbares Element der Vertiefung darstellen.

Erst wenn der Zweifel und die radikale Infragestellung im Weltbild seines religiösen Glaubens konstruktiv aufgenommen werden, führt der innere Weg wirklich zur Vertiefung und nicht einfach in die Vereinfachungen einer abgesteckten Überzeugung, welche Obhut vermitteln soll. Wenn in einem aber die Hoffnung existiert, durch den inneren Pfad Sicherheit zu erhalten, und diese sogar der Wahrheit vorzieht, schlummert in einem tief bereits die Ahnung, dass das Glaubens-Gebäude eigentlich nicht wirklichkeits-tauglich ist. Deshalb bedarf es einer inneren Anstrengung und der Tendenz der ideologischen Abgrenzung, um eine heile Welt zusammenhalten zu können. Da ist die Destabilisation des Zweifelns natürlich nicht gefragt und störend.

Da der transzendente Gott in seiner Unendlichkeit und Ewig-Neuheit nie vollständig erfasst und erkannt werden, ist der Zweifel die dialektisch am nahesten stehende menschliche Antwort, welche sich mit dem bisher Erkannten und Verwirklichten nicht zufrieden geben möchte und immer wieder tiefer ergründet. Nur schon damit ist ein nicht zu unterschätzender Fortschritt gegenüber Programmen erreicht, die den Zweifel ignorieren oder verbieten wollen.

Wenn versucht wird, den existenziellen Zweifel mit unhinterfragbar gültigen Glaubensgrundlagen still gelegt zu werden, dann ist das bereits ein Alarmzeichen der inneren Unsicherheit. Diese krallt sich dann noch intensiver an die Form, die zum Selbstläufer wird, und der wesentliche Inhalt, auf den ja hingewiesen werden wollte, wird verdeckt.
Srila Bhaktivinod Thakur erklärt in der Krishna Samhita, dass alle Beschreibungen der heiligen Texte Hinweise auf eine momentan noch gar nicht erfassbare Dimension sind und provisorischen Charakter haben. Sri Krishna offenbart selber in der Gita, dass alle Phänomene in der Welt nichts Abgeschlossenes und in sich Fertiges oder Eigen-Stehendes darstellen, sondern nur auf seine Unendlichkeit hinweisen (10.41-42).


Man darf religiöse Aussagen nicht gegenüber Zweifelsmöglichkeiten immunisieren. Der Ausdruck davon wäre der Fundamentalismus.
Im Folgenden will ich durch eine von Wittgenstein inspirierte Überlegung zeigen, dass dieses Immunisierung nicht nur unerreichbar, sondern auch vollkommen verfehlt und der religiösen Grundhaltung entgegen gestellt wäre.

Ein Paradebeispiel für die Möglichkeit eines solchen internen Zweifels an religiösen
Glaubenssätzen scheint mir das Gebet zu sein. Denn im Gebet ist es möglich, in der Anrede an Gott alle Glaubensgewissheit hinter sich zu lassen und effektiv dem existentiellen Zweifel an Gott Ausdruck zu verleihen.


„Lieber Syam
Ich höre sie beten – als gäbe es keinen Zweifel.
Billigtrost liegt griffbereit im Regal. Das Angebot der Religionen.
Draussen stehe ich mit stummen Lippen und mit leeren Händen.
Tief fragend und zweifelnd, hilflos angesichts deiner Verborgenheit.
Dann aber plötzlich in ihr aufgehoben.“

Der Zweifel an allen religiösen Glaubenssätzen ist auch dann möglich, wenn die Existenz Gottes faktisch aufgrund der Anrede Gottes bejaht wird. Denkt man an das Ringen Ijobs mit Gott (vgl. Ijob 19,25)oder an das Gebet Jesu in der Ölbergnacht (auch. Mk 15,34), so wird deutlich, wie Glauben und Zweifel nebeneinander existieren dürfen.
Das Gebet ist der Ort der Wahrheit, die Stunde der Wahrheit - und gerade deshalb nicht der Ort der fraglosen und fragenlosen Gewissheit.

Wittgenstein macht deutlich, dass der Zweifel den Glauben voraussetzt.
"Der Zweifel kommt nach dem Glauben" (Wittgenstein 1997, Nr. 160;.
S. 170, 449).

Selbst-Zweifel

Nicht nur Gott und die Offenbarung sollen der genaueren Prüfung unterliegen, sondern natürlich auch das eigene Konstrukt, welches man Selbst nennt.
Viele Menschen auf dem inneren Weg landen nach einer gewissen Zeit in einem diffusen Raum, in einer Art Antriebslosigkeit, Motivationslosigkeit. Es ist ein Symptom, dass man zwar glaubte in der Wahrheit zu sein, aber es vom Innersten her nicht wirklich ist.

Die grosse Gefahr einer unvollständigen spirituellen Erfahrung ist, dass sich das Ego dessen bemächtigt. Was ursprünglich vielleicht eine authentische Offenbarung, ein Durchdringen Gottes zu mir hin war, wird nun als Mittel einsetzt, seine eigene Dominanz zu bewahren. Das ist die Haltung, die letztlich die Aufrechterhaltung des Egos gewährleistet.


Viele Unterdrücker und Diktatoren, wie zum Beispiel Erich Honegger oder sogar ein Adolf Eichmann, glaubten wirklich bis ans Ende ihres Lebens, dass sie nur das Beste für die Menschen getan hätten.
Was ist Einsicht? Es ist ein Moment scheinbarer Demütigung, weswegen sie der Uneinsichtige vermeiden will. Ein Eingeständnis, dass die Art, wie es bisher war, nicht in der Wahrheit gegründet ist.
Wahrheit ist anfangs eine Demütigung. Allerdings nicht für das, was wir sind, sondern für das, was wir angenommen und übernommen haben und nun glauben, dass wir dies seien. Wenn man durch diese erste Empfindlichkeit, dieses Aufbegehren des Alten einmal durchgetaucht ist, bleibt nur noch Erleichterung. Das alte System wollte sich bewahrheiten wie alles, was keine wirkliche Substanz hat. Das Festkrallen an etwas, was in der Ewigkeit keinen Bestand hat, ist die innere Not.
Ist man für die Einsicht bereit? Erst das grundlegende Fragezeichen des Zweifels durchdringt die Selbstzufriedenheit an der Oberfläche.

Sicher fühlen kann man sich nicht in dem, was man weiss. Das Ich sammelt Trophäen auf dem Weg. Aber dadurch kommt es nicht zu sich selbst, es ist darin nicht zuhause.
Man hat gelernt, sich in seinem Scheinwissen sicher zu fühlen. Wir nennen es Fassung. Die radikale Infragestellung des Zweifels darf dieses Überkleid der Fassung abstreifen. Was ist nun in dieser Nacktheit? Was bleibt übrig, wenn man alle Hoffnungen auf Aufgehobenheit des Ichs ablegt?
Das innere Leben ist nicht die Romanze, an schönen Bildern festzuhangen, die einem von den Religionen überliefert werden. Es ist die ganz tiefe Gewissheit, dass wenn man alle Übertünchungen abstreift, eine wunderbare Wirklichkeit ewiglich schon da ist und einen immer schon umgeben hat: Sri Krishna.
Der Zweifel ist ein wesentlicher Weg dahin.
Man kommt mit reinem Herzen und sucht wirklich Gotteserkenntnis. Aber der Geist hat auch eine andere Absicht: Überleben, Selbstschutz und Abwehr zu allem, was dieses Überleben in Frage stellen oder bedrohen können.
Und diese Zwiespältigkeit ist in jeder bedingten Seele. Erst die aufrichtige Infragestellung, der Zweifel, trennt die Vermischungen.

Der menschliche Schatten existiert auch, wenn er unentdeckt oder unterdrückt bleibt, nicht anerkannt oder überschminkt wird mit dem falschen Schein des gesellschaftlich akzeptierten Benehmens. Aber man kann ihn auch übergehen mit dem Denken, heilig zu sein und darüber zu stehen. Das ist die Scheinheiligkeit.

Im Unbewussten vermischen sich die Ursehnsüchte der Seele mit alten innerweltlichen Tendenzen. Diese imitieren schnell den inneren Weg, um ihn für ihre Eigeninteressen abzubuchen. Dann hat man Schein-Seelisches und somit Schein-Heiliges im Gepäck.
Ganz im Inneren drängt aber die Dringlichkeit, die Mischzustände nicht einfach ignorieren oder spirituell beschönigen und damit rechtfertigen zu wollen.
Das Innere ruft auf zur konstanten Suche, das Reinere und Echtere aufzuspüren.
Dazu ist aber auch die Bereitschaft vonnöten, sich in solch tiefen Angelegenheiten in Frage stellen zu lassen.

Wage zu zweifeln – entflamme den Glauben!

Innerhalb dieser Welt gibt es die verschiedensten Weltanschauungen. Und was mich persönlich dabei beschäftigt ist, dass eine Seele, die sich nach effektiver Transzendenz sehnt, sich der ungeheuren Vielfalt von Perspektiven stellen muss ohne dabei irritiert zu werden. Es ist praktisch eine Offenheit auf 360 Grad - nach allen Seiten hin. Aus dieser Konfrontation frei von Angst, etwas zu verlieren, was einem lieb war, kann Krishna einen erst weiter führen. Sonst liegt man dem "Betrug der Überseele" auf, den Krishna in der Bhagavad Gita beschreibt (7.21) - dass er nämlich einfach die Weltsicht unterstützt, die man gerade haben möchte... auch wenn diese gar nicht der Wahrheit, der Absicht Gottes, entspricht.
Das abgeschlossene sakrosankte Weltbild ist die Perspektive der Verhaftung und nicht im Geiste der Wahrheitssuche (Srimad Bhagavatam 2.9.36).
In dieser konzeptionellen Flexibilität muss Paramatma, der Immanenz-Aspekt Gottes, nicht einfach nur das unsichere Gemüt stabilisieren, sondern nun darf Krishna wahrhaft intervenieren.

Ein saragrahi Vaishnava (Essenz-Sucher der Wahrheit) ist nicht verwirrt oder angehaftet an einer bestimmten Theorie oder religiösen Doktrin. Denn Gott ist immer mehr als Alles, immer der „gänzlich andere“, derjenige, der alle Widersprüchlichkeiten in sich zu vereinen mag.
So gerät der Suchende, nicht in Schwierigkeiten in seinem Vertrauen und in seinem Glauben (der Art, die Welt zu betrachten), wenn es widersprüchliche Aussagen gibt.
Der Zweifel ist ein grundlegender Antrieb, da er sich nicht mit unserem Wohlbehagen (Wohlfühl-Spiritualität) zufrieden gibt, sondern uns auch unbequemer Wahrheit stellt.

Die Seele auf dem Weg vereint die beiden Randpositionen – einerseits lässt sie den Zweifel zu und lädt genaueres Verstehen ein, und andererseits kann sie noch immer tief an Gott glauben und sein Leben ihm anbieten.

unzerstörbares Glück

Es gibt ein Erlebnis-Glück, welches man manchmal hat und manchmal auch nicht verfügbar ist.


Die tiefere Form von Glück kennt nicht einmal ein Wieso. Es ist ein unbedingtes Glück, welches nicht von Bedingungen abhängt. Dieses Glück kennt keinen Anfang und kein Ende. In den Phasen, wo es einem in seiner Biografie nicht gut läuft, bleibt dieser Grundstock von unzerstörbarem Glück erhalten. Es bleibt inmitten der Traurigkeit und des Kummers und relativiert selbst die Momente der überschwänglichen äusseren Freude.
Man muss nicht einmal gegen diese vorbeiziehenden Erfahrungen an der Oberfläche des Lebens angehen, sondern sie einfach durchziehen lassen. Die Verankerung in der Tiefe dieses Glückes schenkt einem den Standpunkt, von welchem aus man diese Wolken klar als solche zu erkennen vermag. Man will diese Wolken dann auch nicht verdrängen, denn dies wäre ein Symptom an den Unglauben an dieses tiefe Glück: man glaubt, dass diese Emotionen dem Grundglück den Boden entziehen könnte.
Dies zu erleben ist der erste Schritt zur Verankerung in der Seele… die feine Fröhlichkeit, die mit Leichtigkeit des Herzens einher geht.
Man begegnet diesem inneren Zustand zuerst einmal skeptisch, denn die Tiefe ist zu Beginn jedem unheimlich. In dieser endlosen vibrierenden, lebendigen und liebenden Weite allen Seins verliert das kleine Selbst die Bezugspunkte. Und davor fürchtet es sich.

Dieser stabile Glückszustand entsteht durch das Übergeben seiner Selbst und all dessen, was man erlebt, in Gottes Hände.
Darin liegt ein tieferes Glück, das mit dem flüchtigen Glück, das kurz auftaucht und wieder verschwindet, nichts gemein hat.
Es ist ein Glück, das nicht mit dem Wohlgefühl verwechselt werden kann. Viele zelebrieren das kleine private Wohlfühlglück. Im eng abgesteckten Garten des eigenen Ich existiert aber nur Unerfülltheit. Erst wenn die Vereinzelung aufgehoben wird und die Verbundenheit mit allem, was aus Gott strömt, entsteht, ist tieferes Glück effektiv erfahrbar.
Glück ist die innere Grundhaltung, die nicht vom Spass und Schmerzen beeinflusst wird, welche unweigerlich und ohne unser grosses Zutun in dieser Inkarnation auftauchen an der Oberfläche des Lebens. Es ist abgekoppelt, von dem, was uns widerfährt. Freude ist unabhängig von dem, was uns glückt oder missglückt.

Man jagt dem Glück nach – dieses Glück ist immer leer und selbst wenn man es erlangen sollte, ist es immer wieder schal. Die Vorstellung, die ich mir davon ausmalte, ist nie vergleichbar mit dem, was man dann in den Händen hält. Es genügt nie. Vielleicht erfüllt es einen Augenblick lang, wird dann aber wieder entzogen und man ist noch unglücklicher als zuvor.
Unverlierbare Freude hängt nicht mehr ab von den Schwankungen von Wohlbefinden und Unwohlsein. Sie hat ihre Wurzel in der Beziehung zu Sri Krishna.


Ich selber als Seele bestehe aus unzerstörbarer Glückseligkeit. Deshalb spricht Krishna in der Gita (3.17) davon, dass wer Freude im eigenen Selbst erfährt, befreit ist von den Kompensationshandlungen an der Oberfläche.

Da besteht ein unverlierbares Glück, welches inhärent hier ist und wofür nicht gejagt werden muss.

Freud nennt es das Unbehagen in der Kultur: dass man eigentlich unerfüllt und unglücklich ist, doch dies ist in der Gesellschaft nicht ein anerkannter Zustand.
So wird das Unglück verdrängt und man landet in einer Spass-Gesellschaft, in der man Vergnügen hat, Lust lebt, aber keine Freude - und dies, obwohl man in der Fülle der Dinge leben mag.
Erich Fromm spricht davon, dass man die Maske des Glücklichseins aufrechterhalten muss, um auf dem Markt des Lebens nicht an Wert einzubüssen. Aber nur ganz wenig hinter der Maske findet man Unruhe, Gereiztheit, schwankende Gemütszustände.

Unerfülltheit in der Fülle der Dinge ist geblieben. Man hat Vergnügen und Lust, aber keine Freude.

Im Bemühen nach Bedürfnisbefriedigung existiert nicht Zufriedenheit, sondern es generiert nur neue Bedürfnisse. Neue Waren führen zu neuen Bedürfnissen.
Wenn man selbstentfremdet lebt (ausserhalb der Seele), zwängen sich wesensfremde Bedürfnisse ständig auf und erzeugen den Nimbus von Glück. Aber in der Anhaftung daran verfestigt man eigentlich nur die Selbstentfremdung.
Erwerben, Besitzen, Erweitern…. Das sind eigentlich ausgediente Paradigmen. Die Seele sehnt sich nach Abbauen, Abgeben, Loslassen und sich zu verneigen in Freiheit. Nach der Freude der bedingungslosen Hingabe zu Radha und Krishna.