29. Dezember 2013

Tischgebet - eine Reflektion über das Yoga des Essens

Ein Mensch verbringt in seinem Leben durchschnittlich 8 Jahre nur mit Essen (ohne die Nahrungsmittelbesorgung dazu zu zählen!). Dabei verschlingt er etwa 30 Tonnen Nahrungsmittel. Das Verspeisen eines solchen Berges, aus dem dann dieser Körper wurde, prägt unser Bewusstsein. Doch dieser enorme Zeitaufwand, den wir zur Nährung unseres Organismus aufwenden, will in den inneren Weg integriert werden. Dazu sind die folgenden Anregungen gedacht. Herrschaft, Streit und Krieg kreisten stets um Nahrung – um das Vorrecht, den eigenen Magen zu füllen. Mit dem Besten. In der alten Tradition des Gastmahls wird demonstrativ auf die Ausübung dieses Vorrechts verzichtet. Achtung und Respekt der gemeinsam Essenden drückt sich darin aus, dass sie teilen. Jeder nimmt etwas in sich auf, jeder sieht, dass auch die anderen genug erhalten. Wir teilen aus dem Verständnis heraus, weil wir uns alle als Beschenkte fühlen. Dann wird das Essen zu einer feierlichen Handlung voller Achtung. Die Mahlzeit ist ein sozialer Moment. Man begegnet sich zum Essen. Viele Menschen empfinden angesichts eines religiösen Ausdrucks wie dem Innehalten und Beten vor dem Essen eine Scham und Beklemmung. Speziell wenn man dies noch vor anderen Menschen zeigen müsste. Wenn man z.B. auf Youtube den Suchbegriff „Tischgebet“ eingibt, findet man da fast nur Veräppelungen und nicht aufrichtige Gebete. Heutige Menschen fühlen sich sehr hilflos angesichts eines Gebetsausdrucks. Es ist ihnen peinlich geworden. Bei Martin Luther lautet die Überschrift in seinem „Kleinen Katechismus“, der täglichen Anleitung für die Gläubigen, über das Tischgebet: „Wie ein Hausvater sein Gesinde soll lernen, das Benedicite und Gratias sprechen.“ Wir haben noch Jahrhunderte solcher Prägungen in unseren Genen…. Da ist es leicht verständlich, weshalb wir die natürliche innere Abwehr zum Gebet noch in uns tragen…. Während das Essen und Trinken in nie gekannter Weise öffentlich thematisiert wird, scheint das heilige Momentum, das mit diesem Tun während vieler Jahrtausende unserer Geschichte selbstverständlich verbunden war, immer weiter in den Hintergrund zu treten. In Deutschland wird vor dem Essen nicht „en guete“ gewünscht, sondern „Mahlzeit“. Das ist das Relikt von „gesegnete Mahlzeit“. Der Austausch profaner Segenswünsche wie „Guten Appetit“, oder „lasst es euch schmecken“, ist als magere Kompensation des Gebetes zu verstehen. Man gibt sich die Hände oder erhebt die Gläser und prostet sich zu. Man ahnt irgendwie noch, dass der Beginn der Nahrungsaufnahme eigentlich eine heilige Handlung darstellt, und dass man nicht einfach ohne Bewusstheit mit dem Essen beginnen soll. Wir haben uns vom religiösen Hintergrund emanzipiert und sind irgendwie mit einer eschatologischen Leere zurück geblieben. Die Profanisierung der Essenskultur entfremdet uns auch von uns selber. Wenn jeder gleich anfängt zu essen, sobald etwas auf dem Tisch steht, kann kein Mahl mehr stattfinden, sondern nur noch ein stilloses Abfüttern. Ohne Innehalten verkommt das Essen zu einem hastigen gedankenlosen Verbrauchen von Gütern, zu einer kulinarischen Tankfüllung. Das Gebet ist eigentlich der Eröffnungsritus zum Essen. Es markiert den gemeinsamen Beginn der Mahlzeit. Das gemeinsame Mahl ist nicht einfach nur ein sozialer Anlass, sondern Sangha, Gemeinschaft, welche in einem Momente des Ewigen wachrufen dürfen. Das Gebet beim Essen soll die Frage nach dem, WAS immer miteinbeziehen. Woher stammt die Nahrung und unter welchen Bedingungen wurde sie produziert? Das sind Fragen, die mit der Frömmigkeit eines Gebetes nicht einfach übergangen werden dürfen. Die Tierrechtsorganisation PETA hat einen Werbespot produziert, in dem eine gutbürgerliche Familie am Weihnachts-Tisch sitzt. Die Gans wurde gerade aufgetragen. Die Mutter fragt ihre etwa zehnjährige Tochter, ob sie beim Essen vorbeten möchte. „Willst du das Tischgebet sprechen?“ „Klar. Lieber Gott, danke für die Gans, die wir gleich essen werden und danke für die Gänsefarm, auf der sie ihr ganzes Leben unter furchtbarem Stress verbringen musste. Danke für die Qualen, an denen viele Tiere bereits vor der Schlachtung sterben, und danke, dass die Gänse von Menschen getötet werden, die Spass daran haben. Tiere zu quälen. Und besonderen Dank für den Schmutz, die Chemikalien und die Medikamente, die in der Gans stecken, welche wir gleich essen werden… Amen.“ Gewaltlosigkeit, die Wahrnehmung der Verbundenheit mit allen Mitgeschöpfen, also die universelle Geschwisterlichkeit, stellt immer die Grundlage eines Vertiefungsweges dar. Die Nahrungsaufnahme ist ein Tun, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Leben steht. Das Essen ist nicht nur ein physiologischer Vorgang, vielmehr kommt es darin zum unmittelbaren Erleben von Lebendigkeit ähnlich wie bei der Geburt, der Krankheit und dem Tod. Diese Lebendigkeit nenne ich die „Spiritualität des Essens“. Es ist nicht eine religiöse Etikette, der man einfach Folge zu leisten hat. Nicht die „Ess-Zucht“. Eine solche würde eher in die Stumpfheit führen. Die Integration der Absicht des Besitzers der Nahrung schenkt ein neues Weltverständnis und hat transformativen Charakter für einen selbst. Im Essen erkennt man seine Abhängigkeit. Das Gebet als Antwort dieser Einsicht artikuliert die religiöse Ebene des Essens. Dankbarkeit Das Tischgebet ist praktisch das tägliche Erntedankfest, das einen daran erinnert, dass weder das Leben im Allgemeinen noch das Essen auf dem Tisch selbstverständlich sind. Das Universum ist gratis. Es kann und braucht nicht verdient zu werden. Dieser einfachen Erfahrungstatsache entspringt dankbares Leben, ein Leben aus Gnade. Dankbarkeit ist die uneingeschränkte Antwort des Herzens auf eine uns gnädig geschenkte Welt. Denn wir haben sie weder gemacht und wahrscheinlich noch nicht einmal voll akzeptiert. Dankbarkeit ist Begabung im doppelten Sinn: Durch sie wird und die Welt, mit der wir begabt sind, erst richtig zur Gabe. Und unsere Dankbarkeit macht uns begabt, anmutig und freudig, leicht am Tanz des Lebens teilzunehmen. Immer wieder wird von der gegebenen Wirklichkeit gesprochen, von gegebenen Tatsachen, vom gegebenen Moment. Die angemessene Reaktion auf eine gegebene Welt ist Dankbarkeit. Daraus entsteht eine Freude, mit dem Geber vertrauensvoll in Verbindung zu sein und seine Zuverlässigkeit als wichtiger zu erachten als die eigene Verbissenheit im Lebenskampf. Warum ist es so schwierig, ein Geschenk als Geschenk anzuerkennen? Weil man darin zugibt, vom Geber abhängig zu sein. Das mag sich nicht sonderlich schwierig anhören, aber es gibt etwas in uns, das sich bei der Vorstellung von Abhängigkeit stäubt. Ein Geschenk aber ist etwas, was man sich nicht selber beschaffen kann – zumindest als Geschenk. Man vermag vielleicht genau das Gleiche oder noch etwas Besseres kaufen, aber es wird kein Geschenk daraus, wenn man es sich selber besorgt. Die Dankbarkeit zielt immer über sich selbst und dem Kreisen um das eigene kleine Greifen hinaus. Besitzgedanken Die Beziehung zum Urbesitzer von allem, Sri Krishna, und seinen Gaben wird im Gebet anerkannt und zur Sprache gebracht. Es ist eine Art Bekenntnis. Nachdem man verstanden hat, dass alles Gottes Eigentum ist, erlebt man die gesamte Welt als Sein Geschenk. Dieses begehrt man aber nicht für sich selbst, sondern wertschätzt einfach Ihn selber in diesem Geschenk drin. Sobald die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Ihn und seine gebende Hand, sondern nur noch auf die Gaben gerichtet ist, beginnt die Verzerrung der Wirklichkeit ihren Lauf zu nehmen. Wenn man auf Ihn schaut, ist das Geben sowie das Nehmen das Gleiche, da man die Aufmerksamkeit auf Ihn selber lenkt. Die gebende Hand ist genau die gleiche und hat die gleiche innige Schönheit wie die nehmende Hand. Wenn die Aufmerksamkeit auf die Gaben gerichtet ist, sieht man den Erfolg und den Verlust, das Gelingen und das Versagen unterschiedlich an und die eigene Involvierung mit der Dualität hat ihren Anfang..... Was ist der Sinn der Sinne? Geniessen oder Entsagen? Wenn die Beziehung zwischen Gott und der Welt verstanden wird, erklärt sich die Beziehung zwischen dem Geniessen und der Entsagung. Wenn Gott der Besitzer und Geniesser der Welt ist, dann will die wache Seele dieser Einsicht auch Ausdruck verleihen in ihrem persönlichen Umgang mit der Welt. Sie enthebt sich der Dualität zwischen selbstischem Geniessen und der Ablehnung der Entsagung, indem sie alles in der Welt akzeptiert – aber im Hinblick, dass es letztlich zur Freude Gottes existiert. Es ist also nicht mehr ein persönliches Erfreuen an den Dingen, sondern man schaut alle Phänomene der Welt als Hinweis auf die allumfassende Liebe Gottes hin an. Die Welt wird nicht als eigenes Eigentum für Selbstinteressen vereinnahmt, aber auch nicht als falsch und unwirklich zurückgewiesen, sondern dem Urquell gewidmet. Somit wird jede Interaktion mit der Welt zu einem Austausch mit Gott – nicht in einem pantheistischen Sinne, sondern effektiv zum Du Gottes. Die Begründung für eine Lobpreisung vor dem Essen beruht auf der Vorstellung, dass die gesamte Welt Sri Krishna gehört. Alles ist im Eigentumsrecht Gottes. Wer ihn besingt, anerkennt dies und sein Essen stellt also gewissermassen nicht mehr einen Diebstahl dar, sondern ist dankbare Annahme nicht nur des Geschenkes der Nahrung, sondern auch innere Annehmung des Schenkers. Das Gebet vor dem Essen dient dazu, dass man in die Bereitschaft eintritt, die Gabe Gottes zu empfangen. Das ist nichts Einfaches. Die Würde der Empfängnis besteht darin, freudvoll von Sri Krishna zu empfangen, was er gerade geben möchte – unabhängig von unserem Kommentar. Das bedeutet, unabhängig davon, ob es einem in den eigenen Plan hineinpasst und als freudvoll empfunden wird, oder ob es eine vollständige Durchkreuzung der Eigenvorstellung darstellt. Im Aufgeben jeglicher Eigenvorstellung liegt ein tieferes Glück als in seiner Erfüllung. Die Verherrlichung Krishnas gründet also nicht in den Gaben selber. Es jubiliert in einem drin aufgrund der Gewahrwerdung des Gebenden. Om purnam adah purnam idam (Anrufung der Isopanishad) „Alles, was von Ihm kommt, trägt den Geschmack seiner Herrlichkeit in sich.“ Wir dürfen vor dem Essen innehalten und beten. Der Mensch braucht sich nicht wie ein Tier sofort auf die einem dargebotene Nahrung zu stürzen. In der Zeitschlaufe zwischen Reiz und Aktion liegt tiefe Freiheit inne. Mit dem vertiefenden Gebet wird der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Gott und Gaumen, erinnert. Der Mensch kann sich über seine Nahrung reflektieren. Er erfährt, dass er sich selbst, bei aller menschlichen Leistung – Gott verdankt, der alles geschaffen hat. Jeder Augenblick hängt von Krishna ab und wird von ihm durchdrungen. Alle Handlungen und Tätigkeiten dürfen in die Beziehung mit Krishna eingebracht werden. Dann wird alles zu sacri-ficio, geheiligter Tat. „Dein Reich komme zu uns, Dein Wille geschehe.“ Man möchte einfach, in der Verbindung und der Beziehung zu Ihm leben, der Welt enthoben, da sie nun von Krishnas Präsenz geheiligt ist. Das ist die wörtliche Bedeutung von Opfer (sacri-ficio – heiliges Handeln, ein Handeln, das keine Trennung zum Ursprung, zur Liebesbeziehung zu Krishna, mehr kennt). Im Innenleben ist dies wahrscheinlich der spannendste Punkt: Wo man aufgrund innerlich erfahrener Substanz aufhört, Gott für sich selber zu instrumentalisieren. Das ist nicht nur das Einstellen einer Einkaufslisten-Spiritualität (vom Unbegrenzten die Erfüllung begrenzter Wünsche zu erhoffen, wie Gesundheit, Friede, gutes Gelingen eigener Vorhaben und ekstatische Erlebnisse im Gebet), sondern es ist das Ende eines anthropozentrischen, ja geozentrischen oder sogar universum-zentrischen Gottesverständnisses. Heiligung bedeutet nicht die Verwandlung der Gaben in eine andere Wesenshaftigkeit. Vielmehr wird der Akt des Essens nicht einfach nur eine Tätigkeit der Körper-Erhaltung, sondern verwandelt sich in der Beziehung zu Gott in einen Moment, in dem jede universale Disharmonie überwunden ist. Die Seele gleicht sich dem Rhythmus Gottes, seiner Absicht, an. Die Nahrungs-Darbringung soll immer nur als Lobpreis verstanden werden, und nicht als ein Gebet, von dem man sich Wirkungen in dieser Welt erhofft. Es geht nicht um einen Gebetsspruch oder eine magische Formel, welche die Speisen aus der Unreinheit herausheben, sondern nur um die Rückbindung an RadhaKrishna, um die Wiederaufnahme der Beziehung zu ihnen. In der christlichen Tradition wird diese Bitte um Wirkungen, in welcher nicht mehr die Verherrlichung Krishnas im Zentrum steht, sondern wo es mehr um die Gaben selbst geht, oft so ausgedrückt: Erquicke uns, Herr, mit deinen Gaben, und mit deiner reichen Güte erhalte uns. Segne, Herr, deine Gaben, die wir durch deine Güte empfangen haben. Komm, Herr Jesus, sei uns Gast Und segne, was du uns bescheret hast…. Prasad – die heilige Gabe Durch das Medium des Prasad, der geweihten Nahrung, möchte man selber ein anderer werden. Man möchte zurechtgeformt werden zur Gottes-Gefährtschaft. Nicht die Speise wurde anders, aber der Speisende wird verwandelt. Die Tatsache, dass Essen ein Vorgang ist, welcher seine prinzipielle Abhängigkeit von Gottes Schöpfung zum Ausdruck bringt, wird im Gebet bewusst gemacht. Mit dem Essen geht es nicht einfach nur um Hungerstillung. Da ist eine unglaubliche Wucht enthalten, in welcher durch Geschmacksempfindung eigener Genuss erfahren werden möchte. In der säkularen Kultur ist die Geschmackserfahrung stark in den Vordergrund getreten. Man spricht überall über die Art von Nahrung, die das jeweilige Mundwerk gerade am liebsten mag. In den spirituellen Ansätzen geht es beim Essen primär um die Bekundung der geweihten Nahrung. Das „was“ ist dabei gar nicht mehr so wesentlich. Es geht vielmehr um die Wertschätzung der geheiligten Nahrung. In der Vaishnava Tradition ist es ein wesentlicher Bestandteil, den Geschmack des Prasad nie zu beurteilen – also nicht die eigene Geschmackspräferenz auf das Prasad zu übertragen. Als Raghunatha das Goswami in Puri lebte, nahm er nur so viel äussere Nahrung zu sich, um gerade den Körper und die Seele noch irgendwie zusammen zu halten. Er ass nur das alt gewordene Maha Prasadam von Sri Jagannatha-Deva. Als er ein wenig verrottete Reiskörner vom Boden nahm, welches selbst die Kühe nicht mehr gegessen hatten, rezitierte er das folgende Mantra. atmanam ced vijaniyat param jnana-dhutashayah kim icchan kasya va hetor deham pusnati lampatah „Wenn man die Seele zu verstehen beginnt, wird diese in einem verankerte Erkenntnis alle materielle Hoffnung (auf Dinge und Umstände in der Welt) wegspülen. Warum sollte so eine Person überhaupt noch fortfahren, seinen materiellen Körper zu erhalten und nähren.“ (Caitanya Caritamrita 3.6.314) Dies ist nicht Ausdruck einer Weltverneinung, sondern nur seines intensiven und brennenden Wunsches, Sri Krishna direkt zu begegnen. Im letzten Werk, welches Raghunatha das Goswami am Radha Kunda geschrieben hatte, dem „Vilapa Kusumanjali“, betet er weinend zu Srimati Radharani und sagt, dass er sich nun mit Träumen, Visionen und Sphurtis (zeitweilige Einblicke ins ewige Lila) nicht mehr zufrieden geben könne. Er wolle nun nur noch den direkten Seva zu ihren Füssen. Seine einzige Aspiration ist der ewige Seva in seiner ewigen spirituellen Identität (svarupa). Aus der Verwirklichung dieser Svarupa macht es für ihn keinen Sinn, das Vehikel der Trennung, den physischen Körper, überhaupt noch länger zu erhalten. Dies ist eine hohe Ebene einer Person, welcher es überhaupt nicht mehr um die momentanen Gaben geht, sondern nur noch um das liebende Gegenüber. Im Tischgebet wird nicht nur gedankt für das, was man glaubt, für den Körpererhalt zu gebrauchen. Es wird vielmehr die eigene Abhängigkeit ausgedrückt. Sri Krishna als seinen Erhalter anzunehmen vertieft sich dann in Seinen Lobpreis und in die Versenkung Seines wunderbaren Tuns (sein lila). Man bleibt also nicht beim Essen hängen, das ja eine direkte Nutzniessung seines Segens ist. Zum Gebet gehört immer auch die bewusste Haltung dazu, mit aus welcher es gesprochen wird. Vielleicht gehört ein Moment der Stille dazu, in welcher Sammlung geschehen darf. Vielleicht hat man eine bestimmte Gebärde, welche die innere Stimmung unterstützt (gefaltete Hände, eine bewusste Verneigung oder ein gerade gerichteter Rücken) „Ich bringe dies dir, Sri Krishna, als Darbringung dar. Was sind dir meine Gaben wert, wenn nicht ich selber die Gabe bin. Krishna, was sind mir deine Gaben wert, wenn nicht Du Selbst die Gabe bist.“ Als Empfänger des Prasad vereinigt man sich vor Sri Krishna als Tischgemeinschaft, als Seelen auf dem Weg zu ihm hin. Man gedenkt Krishnas Schöpfergüte, die nicht nur den innerweltlichen Erhalt des Lebewesens zum Ziele hat, sondern vor allem endlos viele Arrangierungen zum Erwachen in diese Schöpfung hineinlegt. In der Yoga-Tradition sprechen viele Menschen diesen Vers der Bhagavad Gita (4.24) vor dem Essen: brahmaarpanm brahma havir brahmaagnau brahmamaa hutam brahmaiva tena gantavyah brahma-karma-samaadhinaa „Brahman, das Eine, ist die Opferhandlung; Brahman als Opferspende wird geopfert durch das Brahman in dem Feuer Brahman; Wer sich so in das das Tun des Brahman versenkt, wird wahrlich ins Brahman gelangen.“ Darin liegt ein tiefes Verständnis verborgen (die Nummern in den Klammern bezeichnen die Verse der Gita): -Die Hände, mit denen ich esse, sind Gott. „Seine Hände und Füsse existieren überall.“ (13.14) -Die Nahrung ist Gott. „Ich bin die geschmolzene Butter, das Ghee.“ (9.16) -Das Feuer der Verdauung ist auch Gott. (15.14) -Die Tätigkeit, das Essen dem Verdauungsfeuer zuzuführen ist auch Gott. „Ich bin das Ritual und das Opfer.“ (9.16) -Die Frucht, des Essens der Überreste des Opfers ist auch Gott. „Diejenigen, welche die geweihten Speisen essen, erlangen das ewige Absolute.“ (4.31) -Alles ist Gott. vasudevam sarvam iti (7.19) Der Bhakta betet, niemals satt zu werden in der Vertiefung zu ihm, im Hören von ihm und in der Anrufung Seiner Namen. Das ist die wirkliche Nahrung… Ein Sadhu sagte mir, dass er das gesamte Leben lang nie gegessen hätte. Aber er sah dennoch recht beleibt aus. Auf mein Nachfragen hin sagte er, dass er immer nur Prasadam akzeptiert hätte. Ist Krishna hungrig? Es ist ein Mysterium, dass Krishna den Dienst seines Geweihten direkt annimmt. Er weilt weit jenseits aller materiellen Sphären in der spirituellen Wirklichkeit, wo kein Mangel herrscht. Er benötigt nie etwas. Er hat nie Durst oder Hunger oder kennt nie irgendeine Unvollständigkeit. Alleine durch seine iccha-Sakti, seine Wunscheskraft, schöpft und zerstört er in einem einzigen Augenblick unzählige Universen. Muss Krishna nun einfach aus Gefälligkeit so tun, als würde es ihn wirklich erfreuen? So wie es ein erwachsener Mensch tut, wenn er ein Gekritzel von einem Kleinkind erhält und ihm sagt, dass sei nun wirklich ein schönes Kunstwerk. Dann wäre das Gottsein eine unglaublich verkrampfte Existenz. Krishnas eigene Lila-sakti „Yoga-maya“ lässt ihn effektiv seine Allmachtposition vergessen und blendet in ihm aus, dass er alles durchdringt und besitzt. So fühlt Krishna effektiv Hunger, Durst etc, das heisst, wirkliche Bedürftigkeit. Er fühlt sich unvollständig und die Beziehung zu seinem Geweihten empfindet er nicht nur als faktische Bereicherung seiner Selbst, sondern sie bedeutet ihm alles. Im Srimad Bhagavatam (11.27.18 a) offenbart Krishna ein Geheimnis: „Opulente Darbietung von einem Nicht Bhakta interessiert ihn nicht. Aber die unbedeutendste Darreichung aus den Händen seiner liebenden Geweihten erfreut ihn über alles.“ Obwohl Krishna bereits alles besitzt, ist er dennoch freudig berührt, wenn ein Bhakta ihm ein unbedeutendes Blatt mit Liebe darbringt (Bhagavad Gita 9.26). Brahma, der Schöpfer aller Welten schenkt Sri Krishna das gesamte Universum. Aber die einfache Darbringung seines Geweihten, der ihm in liebender Versunkenheit ein wenig Wasser schenkt, erfreut ihn viel tiefer. Der Grund dafür ist, dass die Bhakti im Herzen von Krishnas Geweihten selbst auf Sri Krishna anziehend wirkt (Sri Krishna akarsini). „Ich renne immer hinter meinen Geweihten hinterher, sodass ich vom Staub ihrer Füsse gereinigt werden möge“ Sri Krishna im Srimad Bhagavatam 11.14.16 Krishna geniesst Hladini Sakti, seine ihm eigene Freudenkraft. Diese ist in sich faszinierend und berauschend. Wenn Sri Krishna nun die ihm eigene Freudenkraft geniesst, nennt man dies „svarup ananda“. Aber Krishna kostet seine Glückseligkeits-Kraft ungemein viel mehr, wenn sie über die Herzen der Bhaktas auf ihn zurück reflektiert wird. Die Geweihten tragen in sich einen leidenschaftlichen Wunsch des Dienens gemäss ihren eigenen stayi-bhava (der inhärent in die Seele eingepflanzten Art des Liebens). Nun vermischt sich die Hladini Sakti mit den Stimmungen im Herzen der Geweihten (stayi-bhava) und erzeugt unendliche Vielfältigkeit im Liebesaustausch (vaicittris), die Krishna immer und immer wieder neu zu betören vermögen. Unzählige Stellen der heiligen Schriften bezeugen dieses Mysterium. Krishna in Dvaraka war begierig für die paar zerbrochenen und über riechenden Körner Bruchreis, welche ihm sein Geweihter Sudama mitbrachte (Srimad Bhagavatam 10.81) Prasad Seva Die Nahrung wird also nicht nur Krishna dargereicht, sondern das Prasad wird vor dem Akzeptieren auch noch verherrlicht. Denn je mehr innere Aufmerksamkeit in der heiligen Handlung innewohnt, desto lebendiger wird sie einen auch machen. Das Annehmen des Prasad ist eine meditative Handlung. Oft wird dabei geschwiegen, damit man wirklich meditativ sich versenken kann. Die Zunge verarbeitet nicht nur die Nahrung, sondern vibriert gleichzeitig Krishnas Namen. Das Folgende ist ein selbstformuliertes Gebet, das wir manchmal im Ashram miteinander singen. „Ungezählte Zeitalter dumpfer Erwartung haben diesen wachen Augenblick unseres Lebens vorbereitet und herbeigeführt. Wir möchten uns dafür dankbar erweisen. Unser Leben hängt von dieser Nahrung ab. Wir möchten uns dafür dankbar erweisen. Die Mühe zahlloser Wesen hat uns diese Speise geschenkt. Wir möchten uns dafür dankbar erweisen. Lebendiges ist hier für uns gestorben. Wir möchten uns dafür dankbar erweisen. Lieber Krishna, du schenkst uns jetzt die Möglichkeit der Erinnerung an dich. Wir möchten uns dafür dankbar erweisen. Radha und Krishna erscheinen in dieser Form vor uns. Prasadam vermag eine Brücke der Erfahrung zu Ihnen zu sein. Von den zahllosen Lebewesen im Universum wollen nur wenige tatsächlich frei werden. Ein brennender Freiheitsdurst ist seltener. Ein kontinuierliches Freiheitsstreben ist noch seltener. Wesen, die sich nicht mehr auf die Körpersinne fixieren, sind ganz und gar ungewöhnlich. Wer auf des Messers Schneide wandelt, ist ein Ausnahmefall. Und nicht von dieser Schneide herunterzufallen ist das Ungewöhnlichste überhaupt. Ganz wenige nur erkennen ihr eigenes Selbst in Beziehung zu Sri Sri Radha-Madhava. Berge von Verdiensten (sukriti) haben uns an diesen Ort getragen. Die Chance ist einmalig und nicht zu vergeben.“ Das Gebet zur Verherrlichung des Prasad kann frei gesprochen werden oder auch ein Formelgebet sein. Viele Vaishnavas singen täglich das folgende Gebet aus dem Gitavali von Srila Bhaktivinod Thakur. Dabei sind sie immer wieder bedacht, dies nicht zu einer Routine verkommen zu lassen und die Bedeutung immer wieder neu zu reflektieren. Prasadam seva maha prasade govinde nama brahmani vaishnave svalpa punya vata rajam vishvaso naiva jayate sarira avidya-jal, jodendriya tahe kal, jive phele vishaya-sagore tar madhye jihva ati, lobhamoy sudurmati, ta´ke jeta kothina somsare krishna boda doyamoy, kori bare jihva joy, svaprasad-anna dila bhai sei annamrita pao, radha-krishna-guna gao preme daka caitanya-nitai Sri Krishna caitanya prabhu nityananda sri advaita gadadhara srivasadi gaura bhakta vrinda Hare Krishna Hare Krishna Krishna Krishna Hare Hare Hare Rama Hare Rama Rama Rama Hare Hare “Der Höchste Herr, der stets unabhängige Gott, lässt sich von seinem Geweihten bezwingen, der sein Vertrauen und seine Zuflucht in die Namen Gottes, in die Heiligen und die Speise, die der Herr persönlich gekostet hat, setzt.“ Wenn die Seele in der Identifikation mit einem materiellen Körper lebt, existiert in den Sinnen eine kreatürliche Tendenz, Aufmerksamkeit nach aussen zu richten und sich in der materiellen Welt zu zerstreuen…. Identifizierung mit dem, was vergeht, bedeutet Tod. (Bhakti ist die natürliche Eigenart der Seele, wenn alle Tendenzen auf das eigentliche Objekt der Liebe gerichtet wird – auf Radha und Krishna. Das ist die ursprüngliche Intention der Sinne) Von all diesen Sinnen ist die Zunge am ungestümsten und unkontrollierbarsten — ja, es ist in dieser Welt äußerst schwierig, die Zunge zu beherrschen. Sri Krishna ist jedoch sehr barmherzig. Er möchte nicht, dass die Seele in einen Widerstreit mit den Objekten der Sinne tritt. So schenkt er uns die Überreste Seines eigenen Essens (prasadam). Somit braucht sinnliche Tätigkeit nicht eingestellt werden, und doch darf innerste Sammlung beibehalten werden. Durch die Gnaden-Intervention Gottes schenkt er den Sinnen von aussen her ein Objekt, welches der Transzendenz zugehörig ist. Die alte Sinnes-Tendenz des Greifens im Aussen wird auf diese Weise zur Gottesbegegnung. Laßt uns nun dieses nektargleiche Prasadam empfangen und die Herrlichkeiten von Sri Sri Radha-Krishna besingen! In Liebe laßt uns rufen: Chaitanya-Nitai! Auch nach dem Annehmen des Prasad, also nach dem Essen, wird noch einmal innegehalten und seine Wertschätzung ausgedrückt. Wir haben nun Radha-Krishnas Prasadam zu uns genommen. Damit Sie geehrt sein mögen und damit wir leben und den Weg zu Ihnen gehen können.

31. Januar 2013

Entfühlung - über die Entwöhnung von der emotionalen Welt

Die Tendenz, das Gebet und die Beziehung zu Gott mit gefühlten Erfahrungen zu identifizieren ist tief in uns verwurzelt. Man glaubt, selbst durch den inneren Weg die sinnliche Empfindungsfähigkeit nähren oder sogar ausweiten zu können. Im Caitanya Caritamrita findet sich ein Vers, der den inneren Weg sehr prägnant vom Fühlbaren und sinnlich Wahrnehmbaren unterscheidet: “Die transzendentale Substanz ist nie berührbar durch Konzepte und Auffassungsgaben des Geistes, und ist nie erfassbar durch irgendwelche Bemühungen der Sinne. Dies ist die Aussage aller Vedas und Puranas.” (Caitanya Caritamrta 2.9.194) Das innere Gebet soll nicht in eine kausale Verbindung mit den Charismen, mit Geistesgaben, gebracht werden und es auch nicht mit ihnen verwechseln. Paulus listet solche im ersten Korintherbrief (12,7-11) auf: perfekte Deutungen der Schriften, die Prophetie (Dinge voraussehen zu können), das Heilen, die Gabe der Wundertäter, Ausstrahlungskraft, die Weisheitsrede, das Lehren, die Unterscheidung der Geister, die Führungsfähigkeit…. Das sind Eigenschaften, die in der Welt als herausragend betrachtet werden, doch sind sie keinerlei Hinweis auf die Vertiefungsfähigkeit eines Menschen. Es sind karmisch vorbestimmte Eigenschaften, die einfach nur Teil der äusserlichen Persönlichkeits-Struktur sind. Solche Fähigkeiten kommen und gehen und korrelieren nicht mit dem inneren Erwachungspfad. Weil innere Erleuchtungszustände als überwältigend erfahrene Freuden angenehm sind, entsteht auch durch diese sofort eine Neigung, sie zu verlängern. Nicht wegen Gott, dem Objekt des Gebetes, sondern aufgrund des Annehmlichkeits-Impulses für das Selbst. Somit ist der Same für die Anhaftung gesetzt. Der Fokus ist nicht mehr auf das Gott-Dienen gerichtet, sondern auf die Erfahrung innerer Seligkeit, nach der man sich sehnt. Das ist nicht Kontemplation sondern nur spirituell gefärbte Völlerei. Darin will man in spirituell legitimierter Form möglichst viel eigenes Vergnügen von Gott erhalten. Das falsche Selbst, das Selbstgefühl der Identifikation mit der Aussenwelt, benutzt die Erlebnisse im Gebet und im heiligen Namen unterschwellig, um weltliches Verlangen und Befriedigung guter Dinge zu erhalten. Jeder Mensch erlebt mystische Gnade, Entgrenzungserfahrungen. Gelegentlich sogar auf sehr mächtige Weise. Da die Präsenz Gottes uns vollständig umgibt, kann er uns jederzeit einen ersten Hauch seines köstlichen Duftes erfahren lassen. Auch areligiösen Menschen widerfährt das. Da innere Schulung oft fehlt, hält man diese ersten Einladungsschreiben bereits für die Essenz selber und dann werden sie zu einer Gottesverdunkelung, wenn man bei diesen provisorischen Vorboten stehen bleibt. In Indien hat 200 Jahre vor Christus Patanjali in seinem „Yoga-sutra“ systematisch vor siddhis, den aussergewöhnlichen psychischen Fähigkeiten, gewarnt. Spirituelle Errungenschaften stellen immer auch eine Versuchung dar. Wenn dies nicht genau betrachtet und angenommen wird, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass man ihr erliegt. So wird man schnell erhoben in eine Rolle eines erleuchteten Führers, eines Propheten oder charismatischen spirituellen Lehrers. Die Erhöhung geschieht durch eine Identifikation mit den Geschenken auf dem inneren Weg, die man sich selber zuschreibt. Die Identifikation mit dem idealisierten Selbstbild bedeutet, dass einen die alte Kraft des falschen Selbst wieder fest im Griff hat. Das Leben von vielen Heiligen, speziell den Babajis (zurückgezogen kontemplativ Lebende), setzen ein riesiges Fragezeichen vor alles, was das falsche Selbst mit Glück und Erfolg gleichgesetzt hat. Die spirituelle Reise ist keine äussere Erfolgs-Story, sondern eine Reihe von Verkleinerungen des äusserlichen Selbstgefühls. Joseph von Cupertino, ein Kapuzinermönch aus dem 17 Jahrhundert, hat in einer bestimmten Phase seiner geistigen Entwicklung überschwängliche Mystik erlebt. Er hatte solche Zustände der Verliebtheit, dass er in der Messe oft zur Kirchendecke hinaufflog. Für die Mitbrüder waren diese Fliegstunden eher eine Störung, sodass er nach einiger Zeit ein Flugverbot erhielt. Als er dieser Aufwärtsbewegung dann widerstehen musste, fiel er in eine Depression. Später schrieb er, dass er im Aushalten von dieser und im sich im der Stille Gott hinzuhalten wesentlichere Schritte zur aufrichtigen Gottesbegegnung vollzog als durch das Spektakel der Fliegerei. Wenn man von der heimlichen Befriedigung absieht, die fühlbaren Wahrnehmungen als Gottesgabe zu identifizieren, vom geistlichen Stolz, beginnt das falsche Selbst keine Nahrung mehr zu erhalten und erübrigt sich nach und nach, sodass die Individualität der Seele durchschimmert. Wenn man die Nebenprodukte des inneren Weges, emotional gefühlte Wahrnehmungen, so erstaunlich sie auch sein mögen, gehen lässt, schenkt das Zugang zu einer stillen Erfülltheit, die wirklich in der Beziehung mit Gott gründet und nicht im Geniessen seiner Energien und Trostgeschenken. Will ich mich an den Phänomenen ergötzen oder sie wirklich zur Essenz hin durchdringen, welcher allem zugrunde liegt? Johannes vom Kreuz rät seinen Schülern, psychischen Phänomenen keinen Wert beizumessen und was Erscheinungen, süsse Düfte oder Visionen angeht, so empfiehlt er aufs Stärkste, ihnen zu widerstehen. Die Tendenz, sich an der Erfahrungsmystik laben zu wollen, entspringt der Angst der Auslieferung ans einfache stille Gebet, welches dann eben nicht mehr so beglückend sein könnte. Anfänglich weiss man gar nicht, was man mit der emotionalen Erlebnislosigkeit, der Trockenheit anfangen sollte. Man ist verunsichert und würde das stille Beten am liebsten aufgeben und sich entspannen oder eine fesselnde Arbeit beginnen. Trockenheit im Gebet übersetzte das falsche Selbst als die Abwesenheit Gottes. Tatsächlich ist es nur die Verschiebung der Kommunikation auf eine tiefere Ebene. Das Schweigen Gottes ist seine erste Sprache. Alles andere ist ärmliche Übersetzung. Um diese Sprache zu verstehen, darf man innehalten beim heiligen Namen und still ruhend lauschen lernen. Durch das Bei-ihm-Bleiben erhält man Zugang zum geschenkten Gebet, welches eine gänzlich andere Dimension darstellt als alle provisorischen Abspeisungen an emotionalen Aufladungen. In dieser Trockenheit stellen sich alle gefühlten mystischen Gotteserfahrungen ein. Der Mensch, der sich überschwängliche Mystik gewohnt war, sehnt sich, sie zurückzubekommen. Je nachdem, wie viel geistlicher Oberflächen-Trost der Mensch zuvor erhalten hatte, erlebt er nun den Schmerz des Verlustes. Diese Phase innerer Trockenheit ist eine radikale Ablösung vom Fühlhaften, was man vorschnell für die Gnade hielt. Sie heilt einen vor der Versuchung, das Selbst zu erhöhen und eine selbst-strahlende Rolle anzunehmen. Sie befreit vor der heimlichen Befriedigung, als Empfänger von Gottes Segen auserwählt zu sein, also von der Aufblähung des Selbst. Man wird durch sie wieder zur Demut geführt. Eine weitere Frucht der inneren Trockenphase ist die Freiheit von der Herrschaft der Emotionen und Gefühlen. Wenn man das, was für ihre Welt angenehm ist, als göttlich betrachtet, wird man eigentlich nur von ihren Mustern umhergeschoben. Wenn auf dieser Ebene auch für lange Zeit keine Nährung mehr geschieht, Gott einen sozusagen ausnüchtert, und man sein Herz in der Stille einfach Gott hinhält, wird man frei von Gefühlsschwankungen und Launen. In der inneren Trockenheit wird auch die Gottesvorstellung geklärt. Der kindliche Glauben versteht unter Gott einfach das Sicherungsprinzip seines Lebens, in dem man Aufgehobenheit erfährt. Dieser Gott schweigt aber. Er reagiert nicht mehr und erfüllt auch die eigenen Anliegen nicht mehr. Man schaut still zu Gott hin und bemerkt, dass er gar nicht zuständig ist, ein Lieferant der Eigenbedürfnisse und Garant für die Sicherheit des falschen Selbst zu sein. Die naive Vorstellung von einem funktionierenden Gott für die Stabilisierung des Eigenlebens wird zunichte gemacht. Die stille Schau auf Ihn ist das Geschenk und nicht die Umstrukturierung von Umständen in meiner kleinen Gefängniszelle der Gefühle und Erlebnisse. Es ist, als würde unsere Erinnerung, die massgebliche Orientierungshilfe, und die Fähigkeit, gefühlsmässig und emotional etwas aufzunehmen, ausgeschaltet. Krishna möchte, dass sich die Seele nicht mehr darauf stützt. In dieser Hilflosigkeit und einem bisher nicht bekannten Verlorenheit, verweilt man einfach still. Es findet ein Umbau des Bewusstseins statt, welcher selber keine Erfahrung oder eine Reihe von Erfahrungen mehr ist. Hier kann Krishna seine wirkliche Gnade an die Seele schenken, sraddha, unverrückbares Vertrauen, welches immer Geschenk Gottes ist. Es stellt der erste Schimmer der Bhakti dar. In der Seele existiert nun keinen Widerstand mehr und auch keinen inneren Kommentar, der immer aus der Fakultät der Fühlwelt entsprang. Auch Erwartungen für das Zukünftige, die heimlichen Forderungen, sind verstummt. Hier stellt sich das „Machen“ ein. Man ist von den Trostgeschenken der Oberfläche, den ausserordentlichen Gemütszuständen, entwöhnt. In dieser inneren Nüchternheit scheint die Trockenheit wieder einen Geschmack zu bekommen, der einen in die Mitte seines Seins hineinzieht. Diese innere Köstlichkeit stammt nun nicht mehr aus den Sinneswahrnehmungen, sondern aus dem Angesprochen-werden als Seele. Sie ist ganz anders geartet ist als die Aufladungen von der Oberfläche. Da merkt man, wie das stille Gebet grössere Anziehungskraft besitzt als alle geschenkten Wahrnehmungen sinnlicher und emotionaler Art. Es ist also kein schlechtes Zeichen, wenn man überwältigende Glückserfahrungen, die man einmal hatte im inneren Leben, verliert. Das Wesentliche ist nicht das sensualistische Erleben, sondern die unspektakuläre stille Bereitschaft sich Gott zuzumuten und anzuvertrauen – unabhängig seiner Erwiderung. Selbst die wunderbarsten Erfahrungen bleiben nur kleine Wegsteine, wenn es ins Ewige einmünden darf. Wenn man wirklich dem Unbegrenzten begegnen möchte, braucht es diese Haltung: „Ich gebe mich nie mit Erreichtem zufrieden, stehe bei keiner Verwirklichung still, begnüge mich mit keinem inneren Hochgefühl, werte Erfolg und Einsichten niemals als die letztliche Gnade, lasse mich nicht mit der Vorläufigkeit abspeisen, begnüge mich nicht mit dem Weg, den ich schon gegangen bin, vergleiche mich nicht mit der schlafenden Masse und glaube schon gar nicht an den Applaus, welcher mir von ihr entgegengebracht wird. Und dennoch bin ich zutiefst dankbar in jedem Augenblick. So schreite ich immer weiter, ohne je anzuhalten, einer vollständigeren Offenbarung entgegen, auf ein umfassenderes Bewusstsein hinzu. Das gestern Erkannte dient nur wieder als kleiner Brückenstein für die künftige Erkenntnis.“ Es scheint manchmal langweilig zu sein, zumindest von aussen, denn der Weg nach innen ist eben wirklich nicht spektakulär. Eine Erfahrung kann nicht geplant, vorherbestimmt, willkürlich initiiert werden und schon gar nicht erwartet. Wir bestimmen nicht Weise, Ort und Zeit einer Erfahrung - sie widerfährt uns. In Bhakti, in der Gotteszuwendung, ist der Fokus nicht einmal auf Erfahrungen gerichtet, sondern nur auf die Grundhaltung, Krishna zu erfreuen. „Krishna, Du hast mich gelehrt, den aussergewöhnlichsten Zustand, wenn er vorüber ist, ebenso wenig zu vermissen, wie ich ihn begehrte, bevor er kam. Auch wenn ich solche Zustände nicht mehr geschenkt bekomme, sehe ich darin nicht mehr ein Zeichen von Unbeständigkeit im Fortschritt auf meinem Pfad. Ich schreite nun einfach weiter und verweile in den unterschiedlichen Etappen nicht länger, als eben unbedingt nötig.“ Geduld, Kraft, Mut, Ruhe und innerste Gelassenheit… Dass der Geist schweigen lerne und sich nicht gleich die Kräfte zunutze macht, die aus Gott heraus als Gnadengeschenke fliessen. Die Seele darf sich nun verwandeln und mit Gottes unendlicher Absicht harmonieren. Das ist etwas gänzlich anderes, als eine besondere Rolle und Stellung einzunehmen oder aussergewöhnliche Kräfte zu erlangen. Man wird einfach gänzlich unspektakulär in die Lage versetzt, ein ganz gewöhnliches Leben mit einer gänzlich aussergewöhnlichen Liebe, die von Gott entzündet ist und sich auf ihn hinbewegt, zu führen.

16. Januar 2013

Darf man glücklich sein in der materiellen Welt?

Gottes-Hinwendung erscheint vielen Menschen nicht als das Synonym der Lebensfreude. Religion ist für den heutigen Menschen mehrheitlich ein System weltanschaulicher Vergraulung des Frohmutes, der Ausgelassenheit und der Heiterkeit geworden. Die vielen Versprechen auf Jenseitsverheissung und die moralische Regelung, die es zu befolgen gilt, um dieses Heil nicht zu verpassen, lasten schwer auf der Unbeschwertheit des Herzens. Aber auch die materialistische Weltanschauung zeichnet ein recht düsteres und nicht sehr freudvolles Bild. Die säkulare Kultur beschreibt den Menschen „nicht mehr als gottgewollte Krönung einer gut gemeinten, gut gemachten Schöpfung aus der Intention der Liebe, sondern als unbeabsichtigtes, kosmologisch unbedeutendes und vorübergehendes Randphänomen eines sinnleeren Universums.“ (R. Dawkins) Die Frage ist nun, inwiefern eine Seele auf dem Weg zur Transzendenz, in der Welt glücklich sein darf. Wäre die materielle Welt gänzlich glücklos, wäre das eigene erfahrene Leiden die Grundmotivation zur Gotteshinwendung. Dies aber ist kein Antrieb der Liebe, da dieser um das eigene Selbst kreist und nicht um Krishna um Krishnas Willen. Ist nun Glücklich-Sein in der Welt Sünde? In der Sprache sind ureigene Wahrheiten verborgen. Im Deutschen wird das Wort „Heide“ (= Ungläubiger) unter anderem verwendet, um andere Begriffe zu verstärken. So ist ein besonders grosses Spektakel ein „Heidenspektakel“, eine übermächtige Angst eine „Heidenangst“ und ein richtig toller Spass ein „Heidenspass“. Im Falle des „Heidenspasses“ besitzt die Wortzusammensetzung eine zweite, tiefere Bedeutung: Das Kompositum deutet darauf hin, dass die konsequente Ausrichtung am Spass, an der Freude im Diesseits, eine zutiefst heidnische Lebenseinstellung ist. Das kleine, irdische Glück war stets eine Domäne der Heiden. Gute Christen dagegen waren auf „Höheres“ aus, auf das Himmelreich, das über das „irdische Jammertal“ hinwegtrösten sollte. Von daher hat es schon seine Richtigkeit, dass wir das Wort „Heidenspass“ kennen, aber religiöse Äquivalente wie „Christen-, Muslimen- oder Hindu-spass“ vergeblich im Wörterbuch suchen. Zudem finden sich in den heiligen Unterweisungen der Bibel und auch der Bhagavad Gita viele Aussagen, die interpretiert werden könnten als Bestärkung in der Weltabkehr. Jesus predigt, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr käme als ein Reicher in den Himmel, und die Gita (2.44) spricht von der Unmöglichkeit die klare Entschlossenheit zu entwickeln, Krishna in Liebe und Hingabe zu dienen, wenn jemand noch an Sinnengenuss oder Reichtum haftet. Zugegeben: Der scharfe Gegensatz zwischen dem heidnischen Hedonismus (von griech: hēdone = Freude, Lust) und der abendländischen, christlichen Jammertalsrhetorik mag heute abgeschwächt sein, Aber in Zeiten, in denen sich das Christentum selbst noch ernster nahm, konnten die Gläubigen gar nicht anders, als mit „heiligem Zorn“ gegen den „durch und durch unchristlichen Hedonismus“ zu Felde zu ziehen. Gute Beispiele hierfür sind Papst Innozenz III., der mit seiner Schrift „Über die Verachtung der Welt und über das Elend des Menschen“ die irdische Qual als Königsweg zu Gott bestimmte, oder der jüngst heilig gesprochene Opus-Dei-Gründer Josemaria Escriva, der - in der Mitte des 20. Jahrhunderts! – unter grossem klerikalen Beifall verkündete: „Ich nenne dir die wahren Schätze des Menschen auf dieser Erde, damit du sie dir nicht entgehen lässt: Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Schmerz, Schande, Armut, Einsamkeit, Verrat, Verleumdung, Gefängnis.“ (Escriva, Josemaria (1982): Der Weg. Köln, Spruch Nr. 194) Das gesamte Mittelalter war geprägt von dieser starken Jenseits-Orientierung: Die Entbehrung in der Welt würde dann im Ewigen vergolten. Angesichts dieser enormen Verherrlichung des irdischen Leidens muss man sich nicht wundern, dass Legionen frommer Gelehrter den freundlichen Philosophen des irdischen Glücks, Epikur, zu einem der ernstesten Feinde der „frohen Botschaft“ erklärten und dafür sorgten, dass der Begriff „Epikureer“ zu einem beliebten Schmähwort avancierte. Der Name des alten Griechen, der immerhin drei Jahrhunderte vor der Ankunft des Messias lebte, musste nun zur Kennzeichnung einer verdammungswürdigen Lebensweise herhalten, wurde er doch der Inbegriff des innerweltlich Geniessenden. So wundert es nicht, dass ausgerechnet „Epikur und seine Jünger“ von Dante literarisch in die Hölle verbannt und als „Erzketzer“ einem ewigen Martyrium in „Flammensärgen“ ausgeliefert wurden. (Dante (1321/1978): Die Göttliche Komödie. München, X. Gesang.) Auch in der Vaishnava-Tradition findet man negative Bewertung des Weltgenusses. Dieser wird mit harten Worten verdammt (z.B. Bhagavatam 2.3.19). Es werden vielerlei Warnungen ausgesprochen, nicht den Sinn in den Sinnen zu finden, da man sonst als Tier wiedergeboren werden könnte. Um solche Warnungen noch zu festigen, wurden sogar Höllen erfunden (Srila Bhaktivinoda Thakur sagt in seinem Artikel „the bhagavat“, den er bereits 1869 verfasste, dass die Höllenbeschreibungen im Bhagavatam eine Interpolation von Brahmanen seien, die ihrer Morallehre mit Hilfe von Höllendrohungen ein wenig mehr Gewicht zu verleihen suchten.) Da heisst es, dass Fleischesser für lange Zeit in siedendem Öl gekocht würden (5.26.13) und jemand, der vom moralischen Pfad der vedischen Vorschriften abweicht, erwartet eine spezielle Hölle, wo er ausgepeitscht wird und wenn er schmerzgepeinigt umher rennt, rennt er in Palmblätter, die wie die Klingen von Schwertern sind (5.26.15)….Solche Drohgebärden sind dem entkrampften Sein nicht unbedingt dienlich. Epikur übrigens fand über viele Jahrhunderte weit mehr Feinde als Nachahmer. Schon die Stoiker versuchten noch in vorchristlichen Zeiten seine Schriften zu vernichten. Die meisten Gelehrten strebten nach Höherem, nach einem alles umfassenden Sinn, der über die lächerlichen paar Erdenjahre hinausgehen und den Tod eliminieren sollte. Sie fanden diesen „Übersinn“ in den verschiedenen Religionen, die angaben, einen über den Sinnen liegenden, also übersinnlichen Sinn stiften zu können. Allerdings verbanden sie diese Sinnstiftung an einen Preis: Die Verachtung der Sinnenwelt und das Aufgeben des innerweltlichen Glücklichseins. Bei Augustinus, dem Kirchenvater, der vor seiner Bekehrung zum Christentum ein recht ausschweifendes Leben geführt hatte, ist diese Verschiebung gut zu beobachten. In seinen berühmten „Confessiones“ (Bekenntnisse) heisst es: „Nichts hielt mich vom tiefern Abgrund der fleischlichen Lust zurück, als Furcht vor dem Tode und vor dem Gerichte.“ Allein die Angst vor dem göttlichen Richter und der Glaube an einen von ihm vorgegebenen „Sinn des Ganzen“ verhinderten, dass Augustinus sich den Genüssen des Lebens hingab. Also verzichtete er auf den „Heidenspass“, aber dieser diesseitige Verzicht verklärte sich ihm zu einem jenseitigen „Gewinn“, denn schliesslich dachte er dadurch „das eigentliche Leben“ (das Leben nach dem Tode) erwerben zu können. Das ist ein Tauschgeschäft mit fatalen Folgen: Denn für viele reicht die zu erwartende himmlische Glückseligkeit nicht, die Jahre hier noch zu überbrücken. Das hat eine religiöse Verdriesslichkeit als Folge. Die Verheissung des ewigen Lebens war für Augustinus eine derart frohe Botschaft, dass er für sie nicht nur die bittere Pille der diesseitigen Lebensverneinung schluckte, sondern auch die Angst vor Gott zu seinem Lebensbegleiter machte. Viele Menschen fürchten sich vor Gott. Für sie ist Gott eine Bedrohung, der sie bestrafen und an ihnen Rache üben will. Man erlebt sich hilflos ausgeliefert an einen Gott, der es nicht durch und durch gut meint. Um ihn irgendwie gnädig zu stimmen und seiner Grimmigkeit zu entgehen, tut man alles, was er erwartet. Das nennt man die religiöse Praxis in Angst. Man ist ständig auf der Hut, und lebt in Angst, es ihm nicht recht machen zu können. Natürlich kennt Gott auch Strenge und ist nicht ein „Kuschel-Gott“, den man einfach für seine Bedürfnisse einspannen kann. Er soll einen herausfordern und ermahnen. Entscheidend darin ist, dass er die Seele darin bedingungslos annimmt und liebt. Es ist ein zentrales Verständnis, niemals aus der Liebe Gottes herausfallen zu können. Bertrand Russell schreibt in „warum ich kein Christ bin“ (1927), dass Religion hauptsächlich auf Angst gründe. Die Angst vor dem Unbekannten und in einer unsicheren Welt zu leben generieren den Wunsch, bei einem grossen Bruder Sicherheit zu finden. Es wunderte ihn nicht, dass Religion und Grausamkeit Hand in Hand durch die Geschichte gingen, da beide aus der Angst entspringen. Wenn Gott aber als den ständigen Aufpasser und Beobachter vermittelt wird, wird statt des Urvertrauens die Urangst zum Grundgefühl. In allem fühlt man sich kontrolliert, eingeengt, beobachtet und beurteilt. Gott wird als ein Buchhaltergott, ein Willkürgott, angesehen. Ein Gott, der einen nichts gönnt. Im Buch „Die neue Geschichte der Mouchette“ von Georges Bernanos beschreibt er ein Rebhuhn, das sich in der Metallschlinge eines Wilderers verfangen hat. Ein Mann tritt nun in die Lichtung. Das Rebhuhn reisst in seiner panischen Angst an der Metallschlaufe und zerrt sich somit in den Tod. Wir sind die Rebhühner in der Falle des Wilderers. Unsere Angst zwingt uns, uns an der Leine, die uns gefangen hält, hin und her zu zerren, um in die ersehnte Freiheit zu gelangen. Aber was wir machen, ist tödlich. Es gibt eine Alternative, die der denkende konditionierte Geist nie für möglich hielt. Ein Vertrauen aufzubringen, dass der Mann, der in die Lichtung tritt, gar nicht der Wilderer ist, sondern nur die Drahtschlinge öffnen will. In der genauen Selbsterforschung taucht auf, dass die Angst gar nicht die Wahrheit sprach. Säkulare Weltanschauung als Heilung von religiöser Verkrampfung und der Angst „Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts ausser blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit.“ Richard Dawkins in Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution. München., S.151 Dieses Verständnis, so trostlos es anfänglich tönen mag, ist effektiv einen anfänglichen Befreiungsschlag gegen die latente Gottesfurcht, die einen den Frohmut vermasseln möchte und die als ständige Last auf dem Gemüt liegt. Es befreit von einem verängstigen Dasein in Gottesfurcht. Ausserdem darf nicht übersehen werden, dass das Verlöschen im Nichts immer noch die bessere Alternative ist, als postmortal für immer und ewig im Höllenfeuer zu schmoren, wie es angstmachende religiöse Traditionen lehren. Denn: Die Aussichten auf das Leben nach dem Tod sind in den meisten Religionen für die Mehrheit der Menschen (inklusive aller Andersglaubenden) alles andere als rosig. So verkündet auch der christliche Messias, der jeden, der nicht an ihn glaubt, rigoros ins ewige Feuer schickt: „…die Pforte ist weit, die ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit, und viele gehen auf ihm. Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dahin ist schmal, und nur wenige finden ihn” (Matthäus 7,13-14). Die vermeintlich „frohe Botschaft“ von der Überwindung des Todes ist in erster Linie eine brutale Drohbotschaft und das hat vor allem strukturelle Gründe: Mit einer kleinen Dosis Zuckerbrot und eine grossen Dosis Peitsche lässt sich weit besser herrschen, als wenn das Zuckerbrot für jeden jederzeit zur Verfügung stünde. Seltsamerweise werden solche Religionen auch heute noch aufgrund dieses menschenverachtenden Dressuraktes als wertvolle Sinnstiftungsagenturen geschätzt. Deshalb ist das Distanz-Nehmen von Religion ein erster verständlicher Befreiungsschlag, ein Entledigen von Altlasten, um mit frischem Lebenspuls auf eine freudvolle Existenz hinzuzugehen. Von der Stille zur Liebe Schon das Pantoffeltierchen sucht angenehme und meidet unangenehme Reize. Doch wenn der Mensch diese reflexartige Bewegung zur Lebensmaxime macht, bleibt er unerfüllt und leer. Denn selbst wenn alle sinnlichen Impulse zufrieden gestellt sind, ist das zwar Befriedigung, aber stellt noch lange keine Zufriedenheit dar. Der innere Weg zieht nicht in einen Krieg mit der Welt und stellt sich nicht gegen sie, sondern er erweitert nur die Perspektive über die begrenzte Welt hinaus. Mit Ersatzbefriedigung kann man nicht Zufriedenheit ersetzen, mit kleinen Gefälligkeiten und bequemer genehmer Befriedigung überhaupt kann man sich nicht zufrieden geben. Befriedigung ist nicht Frieden, sondern nur eine Imitation davon. Das heisst nicht, dass man keine Befriedigung mehr erfahren dürfte, sondern man vermag sie einfach nur vom Frieden zu unterscheiden. Die stille Freude des Seins, das unspektakuläre Erleben, ewig zu sein, ist eine Freude, an welcher sich keine Befriedigung messen kann. Im Bemühen nach Bedürfnisbefriedigung existiert nicht Zufriedenheit, sondern es generiert nur neue Bedürfnisse. Neue Waren wiederum führen zu neuen Bedürfnissen. Wenn man selbstentfremdet lebt (ausserhalb der Seele), zwängen sich wesensfremde Bedürfnisse ständig auf und die angestrengte Erfüllung ihrer erzeugt den Nimbus von Glück. Aber in der Anhaftung daran verfestigt man eigentlich nur die Selbstentfremdung. Erwerben, Besitzen, Erweitern…. Das sind eigentlich ausgediente Paradigmen. Die Seele sehnt sich nach Abbauen, Abgeben, Loslassen und sich zu verneigen in Freiheit. Nach der Freude der bedingungslosen Hingabe zu Gott, zu Radha Krishna. Der innere Weg muss nicht unangenehm sein, doch orientiert er sich an einem gänzlich anderen Parameter. Religion vermittelt einen letztlichen Sinnhorizont, was ein Weg ist, auf Dauer Leichtigkeit und Glück zu erfahren. Philosophie geht davon aus, dass der Mensch nur glücklich wird, wenn er seinem Wesen gemäss, das heisst aus der Perspektive der Seele heraus, und im Einklang mit Gottes Wunsch lebt. Die Verlockung des schnellen Genusses ist immer nah. Aber die Sucht nach kurzfristigem Spass verdirbt einem auf die Dauer den Zugang zu Glück. Das deutsche Wort „Spass“ kommt von italienischen „spasso“ und meint ursprünglich: Zerstreuung, Zeitvertreib. Spass ist etwas anderes als Freude. Wenn die heiligen Traditionen vor maya warnen, vor der Verblendung, dann wird oft ein fundamentaler Fehler gemacht. Die Täuschung und das Irreale werden mit der materiellen Welt gleichgesetzt. Dann würde die Überwindung der Illusion die Ablehnung Welt bedeuten. Maya ist aber nur eine innere Haltung eines Lebewesens, Gott, den absoluten Mittelpunkt von allem, auszuschliessen und somit die Welt um sich selbst und für seine eigene Befriedigung drehen zu lassen. Im Sanskrit wird diese Unterscheidung sehr deutlich gemacht. -Guna maya (die Ingredienz) Das ist die materielle Energie, die ewig ist und den Lebewesen als Raum zur Verfügung gestellt wird, ihre Verblendung zu leben. Sie ist wirklich, da sie eine Funktion der Energie Gottes darstellt, ist aber in einem ständigen Wandel begriffen. -jiva maya (die Verblendung) Die Verblendung besteht darin, etwas nicht in Verbindung mit Gott zu sehen. Da alles einen Bezug zu ihm hat, ist die Blickweise der Ausklammerung Gottes eine unwirkliche Perspektive. Gott gewährt dem Lebewesen die Ausblendung seiner selbst durch diese verblendende Kraft von ihm, wenn das Lebewesen die Gleichgültigkeit zum Liebesaustausch mit Gott aufrecht erhalten will. Wenn mich jemand mit einem Stock schlägt, würde ich ja auch nicht den Stock bestrafen, also die guna-maya, denn dieser ist ja nur das neutrale Medium. Jiva-maya, die Täuschung, die eigentliche Täterschaft der Abwendung, wird von mir erzeugt. Die Haltung, in den Kampf gegen die Sinnesobjekte zu treten (den Stock zu schlagen) ist eine sehr direkte Art der Verknüpfung mit ihnen. Wovor die Religion liebevoll warnt, ist nicht das schöne freudvolle und glückliche Leben hier in der Welt, sondern nur die Haltung, alle Hoffnung auf Erfüllung in die Welt hinein zu projizieren (Bhagavatam 5.14.23). Materielles Leben ist nicht gleichzusetzen mit dem gegenwärtigen Aufenthaltsort dieses Körpers. Es besteht aus der Grundausrichtung des Bewusstseins. Nicht die Welt ist leidvoll oder elend, sondern der eigene Umgang mit ihr und die Art und Weise, wie man die Welt versteht, kann unter Umständen Leid erzeugen. Aber genau dieser Umgang kann auch korrigiert werden. In der Bhagavad Gita (5.13) spricht Krishna davon, dass man glücklich in der Stadt der neun Tore leben kann. Nämlich wenn die jiva-maya als solche erkannt wird. Die Religionen verkünden oft, dass in der Gottesausblendung Verdammung herrsche. Die Gita (14.6) spricht aber davon, dass es auch Glück in der Gottesabgewandtheit gibt. Wäre dies nicht der Fall, wäre die Zuwendung zu ihm ein alternativloser Zwang. Dann aber wäre Liebe verunmöglicht. Der innere Weg lässt einen erkennen, dass wesenhaftes Glück nicht einfach in der Befriedigung von Reizen liegt, und dass das Loslassen von der Hoffnung und Erwartung nach Erfüllung aus den äusseren Dingen und Umständen bereits mehr Freude schenkt als die Erfüllung dieser. Die unerschöpfliche kontinuierliche innere Freude lässt sich in zwei Kategorien aufteilen: -Die Freude des Friedens (brahmananda), die in der Erkenntnis des Selbst, der ewigen Seele, wurzelt. Wie Wolken am Himmel, ziehen Gedanke, Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen in diesem weiten inneren Raum vorbei, ohne effektiv Spuren zu hinterlassen. Sie alle tauchen auf und vergehen dann irgendwann wieder. Aber dieser Raum, aus welchem die klare Beobachtung der phänomenalen Welt geschieht, kommt und geht nie und bewegt sich in keiner Weise. Erfahrungen, ob hohe oder tiefe, heilige oder profane, frohe oder alptraumhafte, kommen und gehen einfach wie endlose Wellen des Ozeans. Wenn man in der Seele ruht, alles Geschehen nur aus der Ferne wahrnimmt ohne zu interpretieren, ist Stille. Dann zieht es einen nicht mehr zu den Wonnen und den Qualen der Darbietungen der Erfahrung hin. Diese Erscheinungen ziehen an der Oberfläche des Bewusstseins einfach wieder ab. Identifiziertes Zuschauen lassen diese wirklich erscheinen. Nicht identifiziertes Zuschauen bewahrt den Raum zur Seele hin. Die Dinge, die man sieht, sind lustvoll oder enttäuschend, fröhlich oder traurig, ängstlich, gesund oder krank, banal oder absorbierend, aufregend oder langweilig. Aber der, welcher diese Zustände und Empfindungen erlebt, ist nie ängstlich, freudvoll und deprimiert. Er bleibt einfach frei von allen zeitweiligen Phänomenen, unberührt von Geburt und Tod. Umstände und Zustände in der äusseren Welt, tauchen auf und vergehen wieder, sind erfreulich oder betrüblich, angenehm oder schmerzhaft, aber die Seele ist nichts von all dem. Sie kommt und geht nicht. Sie bleibt immer die Gleiche. Die Seele wankt nicht, wenn alles wankt und sie tritt nie in den Strom der Zeit ein. Yo na hrsyati na dveshti (Bhagavad Gita 12. 17) Das ist nicht ein Zustand grundlegender Betrübtheit und leeren Teilnahmsigkeit, sondern einer stillen beständigen Freude, die quer durch alle Lebenserfahrungen hindurch, unabhängig ob sie beglückend oder tragisch sind, bestehen bleibt. Die Freude der Liebe (sevananda) Wenn es heisst, die Welt sei Leiden, dann ist damit ausschliesslich meine Verhaftung an die Welt und meine Verstrickung und Verknüpfung und die Absorption des Bewusstseins mit ihr gemeint. Es gibt kein Leid in Isvara-sristhi, in der Schöpfung des Herrn. Leid ist der Verlust der Erinnerung an unseren Ursprung. Wenn die Seele sich in dieser Erinnerung verankert, existiert eine unzerstörbare und durch keinerlei Ereignisse eingeschränkte Freude, die auch durch Widerwärtigkeiten und unerwünschte Umstände je gestört werden könnte (Bhagavad Gita 6.22). Religion tritt nicht in einen Krieg gegen das kleine Glück in der Welt, sondern betrachtet alles Schöne und Wunderbare einfach nicht als das Endgültige, sondern nur als eine zarte Spur, die Gott in die Welt hineingelegt hat als Hinweis auf ihn (Bhagavad gita 10.41). Wenn man jedoch das Heilige angestrebt weil man die Welt vermeiden möchte, erlangt man nicht die Transzendenz, sondern wird zurückgeworfen in die Begegnung mit der Welt. Versöhnung mit allem legt den Grundstein zum effektiven Fortschritt. Das ist der Zustand, in welchem Kompensation nicht mehr möglich ist. Die Bhagavad Gita (9.2) erwähnt auch, dass das Grundgefühl der Gotteszuwendung die beständige grosse Freude sei. Gott selber also möchte die Welt nicht als Jammertal sehen. Er ist nicht neidisch, wenn grosse Freude in ihr erlebt wird. Sie ist Hinweis auf ihn selber. Der Grund weshalb er die die heiligen Offenbarungen will ist ja gerade die Einladung an die Seele, Täuschung, Identifikation mit der äusseren Welt abzulegen, welche die Ursache von Leiden darstellt. „Im Kampf ist Welt und Ich, und nur in Gott ist Frieden, Weil Welt und Ich in Gott nicht weiter sind geschieden. Nicht durch Befriedigung befriedigst du die Triebe; Zufriedenheit gibt nur die Friedlichkeit der Liebe.“ Friedrich Rückert Epikur, der Philosoph des irdischen Glücks, ist also nicht ein Erzfeind des inneren Lebens. Seine Lehre legt nur die Grundlage für den inneren Weg.

11. Januar 2013

Spirituelle Aufarbeitung von Verbrechen

– Eine Reflektion zur brutalen Vergewaltigung einer jungen Inderin Bei Naturkatastrophen und schlimmen Delikten werden die betreffenden Personen psychologisch betreut und es wird ihnen Hilfe und Beistand zugestanden. Es bräuchte aber auch theologische Aufarbeitung, wie ein solches Geschehen mit einem gütigen Gott zu vereinen ist. Die jahrelangen Pestplagen und letztlich das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, einer der dazumals grössten Städte der Welt, waren für das religiöse Kollektiv nicht mehr vereinbar mit war ihrem Gottesbild des gütigen Gottes und somit wurde dies ein äusserer Auslöser für das Zeitalter der Aufklärung. Ihr Gedanke war einfach: Gott existiert. Das Übel existiert. Wenn Gott existiert, dann ist Gott allmächtig, allgütig und allwissend. Weshalb existiert dann all das Tragische in der Welt? Das ist eine Frage, welche auch in unserer Zeit viele Menschen auf dem Herzen tragen. Die Gott zugeschriebenen Eigenschaften passen nicht zusammen mit dem Zustand und der Geschichte der Welt. Ein Gott, der Leid verhindern könnte und es nicht verhindert - müsste aufgrund unterlassener Hilfeleistung vernommen werden. Im Betrachten der Weltgeschichte erkennt man, dass die Welt nicht die Eigenschaften besitzt, die sie haben müsste, wenn sie von einem allmächtigen, allgütigen, allwissenden Wesen geschaffen worden wäre und noch immer von ihm erhalten würde. Das Universum hat genau die Eigenschaften, das es haben müsste, wenn es keinen Gott gibt, der das gedacht und geplant hat. Grausam, willkürlich, sinnlos… In der Genesis heisst es, dass Gott seine Schöpfung für gut befand. Ein allmächtiger und guter Gott dürfte nicht gleichzeitig so viele Beweise einer anscheinend durchdachten, geplanten Güte im Universum und so viele Zeichen einer berechneten, kalten Bosheit zeigen. Der agnostische Philosoph Bertrand Russell bekundete "höchstes Erstaunen" darüber, "dass Menschen glauben könnten, diese Welt mit allem, was sich darin befindet, und mit all ihren Fehlern sei das Beste, was die Allmacht und Allwissenheit Gottes in Millionen von Jahren erschaffen konnten". Er fragte: "Meinen Sie, wenn ihnen Allmacht und Allwissenheit und dazu Jahrmillionen gegeben wären, um ihre Welt zu vervollkommnen, dass Sie dann nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschisten hervorbringen könnten?" Man geht aus von einem Gott der Güte, der Liebe, und man erlebt eine Welt voller Ohnmacht, voller Grausamkeit und Absurditäten. Ein allmächtiger Gott hätte viele Möglichkeiten, Leidende "aus dem Leiden zu ziehen" - was soll man davon halten, wenn er sie nicht nutzt? Was würden wir wohl von einer Mutter halten, die ihrem schwerkranken Kind eine heilende Medizin vorenthalten würde und darauf verweisen würde, dass sie ja bei ihrem leidenden Kind sei und ihm "beistünde"? Würden wir uns nicht an den Kopf fassen? Würden wir uns nicht fragen, ob man so einer Mutter nicht das Sorgerecht entziehen sollte? Ob man sie nicht auf ihren Geisteszustand untersuchen sollte? Die Theodizee-Frage (weshalb ein gutmeinender Gott Leid in der Welt zulässt und in diesem auch noch schweigt) hatte sich auch schon vor der christlichen Zeitrechnung der griechische Philosoph Epikur (314-270 v Ch.) gestellt gehabt. Das christliche Gottesverständnis verklärt dann einfach das Leiden als Gnade: "Gott ist bei den Leidenden. Gott zieht uns nicht plötzlich aus dem Leiden, aber wenn wir leiden und angefochten sind, steht Gott uns bei." Dieses Denken hat zur jahrhundertealten Erdenschwere des abendländischen Denkens beigetragen. Auf diese uralte, philosophische Frage, wie sich Gottes Gerechtigkeit und Liebe mit dem Leid dieser Welt und all ihren Übeln vereinbaren liessen, antwortet ein Chor philosophischer Skeptiker vielstimmig durch die Jahrhunderte: "Entweder will er sie nicht verhindern, dann ist er nicht heilig, gerecht und gut; oder er kann nicht, dann ist er nicht allmächtig; oder er kann nicht und will nicht, dann ist er schwach und missgünstig zugleich; oder er kann und will es, - wieso gibt es dann diese Übel?" Da oft Antworten ausgeblieben sind, haben viele Menschen verständlicherweise die religiöse Gleichgültigkeit vorgezogen. Sie halten sich mit dieser Frage, die man auch als das "Theodizeeproblem" nennt, Gott vom Leibe. Es gibt auch theistische Ansätze, reif mit dieser Frage umzugehen. Das Leid der Welt ist weder ein Beweis für Gott noch ein Beweis gegen Gott. Aber es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, nicht zu naiv von Gott zu reden. Das Leid stellt das eigene Gottesbild infrage und zwingt einen zur Reflektion. Naives Verständnis muss immer sterben, aber eine tiefe Auseinandersetzung mit Gott und wie das Weltgeschehen mit ihm vereinbar ist, kann auch zu einer reiferen Gottesbeziehung führen. *************************** Unser Planet soll offensichtlich nicht die Imitation des Paradieses werden. Solange wir in einer unvollkommenen Welt leben, wo die Illusion möglich ist, sich unabhängig von Gott zu wähnen, werden ungewünschte Lebensumstände natürlich sein. Man kann in einer ursprünglich widernatürlichen Umgebung, was die gesamte Schöpfung für die ewige Seele ja darstellt, das Schöne und Gute nicht als naturgegeben erwarten. Naturkatastrophen, sowie von anderen Menschen und vom eigenen Geist entstandene Unannehmlichkeiten und Ärgernisse werden unausweichlich unsere Begleiter sein. Die Bibel unterstreicht diese Tatsache mit den Worten, "dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet" und auf den Tag wartet, da sie frei wird "von der Knechtschaft der Vergänglichkeit". (Römer 8,21.22) Die Bhagavad Gita (8.15) spricht von der materiellen Schöpfung als „dukha-laya“ dem Ort der Beschwerden, in welchem Leiden zur inhärenten Arrangierung dazugehört. Denn die Schöpfung richtet sich nicht nach den eigenen momentanen Vorstellungen. Da wir von unserer Natur her unvergänglich sind, übertragen wir die Sehnsucht der Erfüllung im Beständigen in diese Welt hinein und die dadurch nicht erfüllte Hoffnung erzeugt die Leere der Enttäuschung. Gerade in der westlich christlich geprägten Kultur wird Leiden oft idealisiert. So hört man immer wieder, dass Menschen am Ende ihres Lebens zurückblickend sagen, dass die härtesten Zeiten die besten waren, in welcher sie verstanden haben, worauf es wirklich ankommt. Leiden solidarisiert die Menschen und es wird gedacht, dass es einem lernt, auf Gott zu vertrauen und seine Gegenwart aufzusuchen. Das ist aber nicht wirklich nötig. Ein glücklicher Lebensansatz wird nicht dem Leiden noch Bedeutung zuschreiben, um es so als Lebensnotwendigkeit hinzustellen. Die Bhagavad Gita beschreibt, dass nicht die Welt in sich leidvoll ist, sondern nur die nicht erfüllte Erwartung, die ich in sie hatte. „Die Natur gilt als die Ursache aller materiellen Ursachen und Wirkungen. Die Seele aber ist die Ursache von der Erfahrung von materiellem Glück und Leid.“ (Bhagavad Gita 13.21) Die Interpretation der Umstände, der gegebenen Geschehnisse, wie man sich in ihnen verhält, liegt in der Verantwortung der Seele. Sie nimmt die endlose Veränderlichkeit wahr und in der Identifikation mit der äusseren Welt hält sie diese für ihre eigene. Wenn der Körper alt wird, denkt man, man würde alt. Identifikation ist also ein Limitierungsprozess, der die unberührte Identität seiner Selbst an zeitweilige Phänomene anklebt. Identifikation ist, sich für etwas anderes zu halten als das, was man ist. Hält man sich für den Körper, sieht man die Welt nur noch aus dieser reduzierten Perspektive. Auch Gemütsstimmungen wie Wut können zum Identifikationsobjekt werden und somit zur Linse, durch welche man die Welt betrachtet. So ist Identifikation ein Interpretationsmuster. Im Tierreich existiert erzwungene Identifikation. Eine ewige Seele denkt plötzlich, sie müsse herum bellen – nur weil man sich gerade in einem Hundekörper aufhält. Als Mensch bestünde die Möglichkeit aus der Gesteuertheit der Körperprogramme herauszutreten. Wenn es heisst, die Welt sei Leiden, dann ist damit ausschliesslich meine Verhaftung an die Welt und meine Verstrickung und Verknüpfung und die Absorption des Bewusstseins mit ihr gemeint – also all die Hoffnungen und Erwartungen, die man auf sie übertragen hatte. Es gibt kein Leid in Isvara-sristhi (in der Schöpfung des Herrn). Das ist so befreiend! Krankheiten kommen, verursacht von der materiellen Natur. Aber es ist nicht vorbestimmt, dass diese zu einem Leid werden muss, denn dafür bin ich selber verantwortlich. Wir haben eine angewohnte Tendenz in uns, zur Welt hin zu reagieren. Aber alles ist immer in Krishnas Hände - und zu oft bewerten und kommentieren wir die Umstände, bewerten sie und leiden daran, dass sich unsere Hoffnungen nicht erfüllen. Nicht auf das Geschehen zu reagieren ist eine der wesentlichen Übungen im Yoga. Die reine Seele erfährt die materiellen Zustände nicht, es ist nur die Identifizierung, die ihr Bewusstsein an das weltliche Glück und Unglück ankettet. Man nimmt sie wahr ohne festzuhalten oder zu verdrängen. Sie sind vorbeiziehende Erlebnisse, aber erzeugen keine Resonanz mehr. Ohne Identifikation mit den Lebensgefühlen existiert nicht leere Gefühllosigkeit, sondern dies ist der Beginn der wirklichen Beziehung der Seele zu Gott. Widrige Erlebnissituationen erinnern auch daran, dass wir nicht in Kontrolle des Geschehens sind. Weder die Kräfte der Natur noch die Mitwelt von Menschen und Tieren vermögen wir zu beherrschen oder zu bezwingen. Diese Einsicht bewahrt uns vor der Hybris, uns zu übernehmen und dadurch uns zu überheben und wird uns in die Demut führen. Das alleine ist schon wertvoller als die Aufblähung des Ichs in einer Welt, wo ihm alles gelingen würde. Was wäre, wenn in der Welt alles nach der eigenen Vorstellung verlaufen würde? Erstaunlicherweise wäre selbst dann der genau gleiche Anteil Schwerheit und Leiden vorhanden. Denn Leiden ist nicht das objektive Erleben von Zuständen, sondern die eigene Reaktion auf diese hinzu. Wenn jemand im Glauben lebt, dass bestimmte Lebenszustände das Glück und Leid erschaffen würden, wird sein Leben zum Versuch, diese möglichst zu kontrollieren. Der innere Weg betrachtet als das Ziel des Menschseins nicht die Souveränität über alle Umstände, sondern das Mass an Liebe, welches man aufbringt unabhängig aller Lebenssituationen. Wir erfahren auf geheimnisvolle Weise, dass unser Glück nie abhängig ist, ob der Lebensverlauf glatt oder tragisch ist. Die Schöpfung ist nicht fehlerfrei-statisch angelegt sein, sondern dynamisch-wild, mit Erdbeben, Wirbelstürmen und unser aller Tod am Ende als Gewissheit. Dass wir zur Liebe fähig sind bedeutet auch, dass wir auch für Vertrauensmissbrauch, Lüge, Betrug, Verrat, Enttäuschung, Verletzung, Mord etc fähig sind. Liebesfähigkeit impliziert die Möglichkeit und das potenzielle Vermögen, auch anders zu handeln können. Eine heute perfekte Welt würde ich zudem morgen schon wieder verändern wollen, da auch sie mir nicht behagt auf lange Sicht. Wäre alles immer perfekt, wären wir immer stark, immer fehlerlos, könnten immer die volle Leistung geben und würden nie scheitern, geschweige denn böse Gedanken hegen, dann würden wir uns selbst genügen. Das Auf-Sich-Selbst-Bezogensein ist aber eine Erstarrung, die nicht auf ein Hinzu mehr fliessen kann. Der Vollzug einer Wende der Aufmerksamkeit vom Warum zum Wozu hin ist genau das, was einen inneren Weg ausmacht. Als Jesus am Kreuz hing und die berühmten Worte „Eli, Eli, lama asabtani“ ausschrie, da hat er möglicherweise gar nicht gefragt „Mein Gott, warum hat du mich verlassen?“, sondern „Mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“, denn im Hebräischen gibt es für „Warum“ und „Wozu“ nur ein Wort. Und in der Tat ist das „Wozu“ im Hinblick auf die Frage des Leides wichtiger ist als das „Warum“. Denn wenn man mitten in Schwierigkeiten steckt, dann macht es nun nicht mehr viel Sinn, in die Vergangenheit zurück zu schauen und zu lamentieren, warum das passiert ist. Nun tut sich eine neue Chance auf, weiter zu blicken und frei entscheiden, wie man auf die gegebene Situation reagieren möchte, was einem nun wirklich wichtig ist und wohin man sich nun orientieren und hinwenden möchte. Es ist nicht möglich, von der Welt her und von dem Geschehen darin Gott zu denken. Die Theologie kann nicht Kausal-Fragen beantworten ("warum ist es geschehen?"), sondern beleuchtet das Wozu. Es geht um die teleologische Frage, der Frage, was Gott mit uns beabsichtigt. Krankheit, Unglück, Schicksalsschläge werden schnell als Strafe Gottes für das Fehlverhalten der Menschen interpretiert. Man hat durch Schuld den Himmel provoziert. Man will es verstehen und einordnen können. Wird die Welt nach einer moralischen Ordnung interpretiert, kommt sie einem häuslicher vor. Gott ist ein Vater, der seine Kinder lenkt - durch Lob, Strafe und Tadel. Wenn Frevler im Wohlergehen leben und Gerechte im Leiden, erwartet man vom Gottesrichter, dass diejenigen, die unserer Anschauung gemäss widrig handeln, gehörig bestraft würden. Das ist ein sehr naives und archaisches Gottesbild, von dem sich viele Menschen unserer Zeit intuitiv befreit haben. Wirklichkeit ist umfassender und verläuft nicht in solch primitiven Rache-Mustern. Aufgeklärte Religion fordert nicht Gerechtigkeit, sondern führt in die Liebe. Das theologische Problem darin ist ein falsches Naturverständnis. Die Natur ist Natur und man kann von ihr aus keine Rückschlüsse auf Gott ziehen. Religion bedeutet, sein Leben von Gott her liebend zu ordnen. Diese Liebe lernt man nicht in der Natur. In der Natur bewirken Schicksalsschläge die Ausschliessung aus der eigenen Gruppe. Eine Öl-Möwe wird vom Schwarm zerhackt, da sie anders aussieht. Die Schwachen und Kranken in der Natur sollen sich nicht fortpflanzen. Sie werden nicht zur Generation zugelassen. Sozial-Darwinisten legitimieren aus dieser Grausamkeit der Natur ein rücksichtsloses Weltbild, wo einfach nur der Stärkere überlebt (survival of the fittest). Der russische Anarchist Kropotkin schreibt in „mutual aid“ (1902), dass auch Mitgefühl, Barmherzigkeit und das Rückstellen eigener Interessen zugunsten Anderer Bestandteil der Natur sind. Aber die absolute Güte lässt sich nicht aus der Natur ableiten, da die Ambivalenz von Rücksichtslosigkeit und Mitgefühl inhärent in ihr existiert. Es ist grundlegend falsch, die Welt als ein Zeugnis von Gott zu betrachten, der in ihr seine Güte, Macht, Weisheit und Schönheit offenbare. In der Gita (7.4) sagt Krishna: abhinna prakritir astadha "Diese Welt ist meine abgesonderte Energie." Und diese kann man nie mit ihm gleichsetzen. Gott schwebt keine Welt vor, in der die Menschen nicht leiden. Der Gedanke an eine leidensfreie von Gott geschaffene Welt ist eine menschliche Projektion. Es ist eine Hoffnung auf einen Zustand des Ego, des Zustandes der Gleichgültigkeit zu Gott und der daraus folgenden der Identifikation mit Materie, in dem es sich wohl fühlen darf. Die Vorstellung von Glück, die dem Ego entspricht, ist diejenige einer diejenigen Krishna spricht in der Gita (8.15) davon, dass in dieser Welt aufgrund ihrer Zeitweiligkeit alle eigenen Vorstellungen, die wie Fixierungen des Geschehens darstellen, enttäuscht werden und dass letztlich jede persönliche Verhaftung im Drama endet. Gott schwebt nicht eine leidensfreie Welt vor. Da der Aufenthalt in dieser Welt von vornherein unnatürlich ist. Deshalb darf man die Gnade Gottes nie auf die körperliche und feinstoffliche Ebene reduzieren. Krishna will uns nicht die Traumidylle schaffen. Das wäre die Idee des Calvinismus, welche Gottes Gnade auf innerweltliches Wohlbefinden und Erfolg reduziert. Gott ist mehr als seine duale Schöpfung der materiellen Welt. Gott steht über Natur mit ihren widersprechenden Kräften (Bhagavad Gita 7.13). Die Natur nimmt keine Rücksicht auf ihre Geschöpfe. Religion kann deshalb ihre Grundlage nicht in der Natur finden. Pantheismus, Gott mit der Natur und den Abläufen in ihr zu indentifizieren, ist oberflächliche Schwärmerei, denn es gibt in dieser Natur auch die Grauenhaftigkeit und die Rücksichtslosigkeit, das Böse. Wenn man Gott auf die Natur, seine Schöpfung, reduziert, dann wäre diese Ambivalenz die verpflichtende Vorlage für unser eigenes Handeln. Dann müsste ich so umgehen, wie es die Natur tut (viele Fleischesser verteidigen ihre Mordeslust mit dem Argument, dass gewisse Tiere ja auch Fleisch essen würden) - aber genau das darf ich nicht. Der Mensch hat als einziges Wesen einen anderen Auftrag: Nicht nach dem Gesetz Gottes zu leben ("natürlich"), sondern nach dem Willen Gottes. Dharma ist nicht Ethik, sondern eine von Gott her definierte Verhaltensweise. Sri Krishna ist der Hintergrund jenseits der Phänomenalität dieser Welt. Augustinus schreibt in "Confessiones", wie er auf die Suche nach Gott geht und die Sonne, den Mond, die Sterne, die Wüste, das Meer, die Wunderbarkeit der Natur befragt und sie alle sagen ihm: "Ich bin nicht der Gott, nach dem du suchst." Krishna wohnt in der Sehnsucht nach einer Liebe, die in der Natur nicht zu finden ist. Die Natur ist nie der Ruheort der Seele - sie kann erst im Unendlichen ruhen, erst bei Gott. Der Mensch hat etwas, was es in der Natur nicht gibt - Religion, der Entwurf einer übernatürlichen Liebe, die auf Gott gerichtet ist und von da her in diese Welt hinein handelt. Es geht nicht darum, alles in dieser Welt zu lieben und es mit Gott gleichsetzen zu wollen, sondern die auf Gott gerichtete und genährte die Liebe wieder in die Welt hineinströmen zu lassen. Die Liebe Gottes lässt sich nie ergründen in der Natur, sondern trotz der Natur. Wenn man Gott nur auf seine Schöpfung reduziert, den König also nur noch als den Gefängniswächter betrachtet, wird man die Ambivalenz der Natur auf Gott übertragen. Das dualistische Gottesverständnis vermag auf die Theodizee-Frage keine Antwort geben und der Enttäuschungs-Atheismus wird darauf folgen. Leiden ist der Hinweis darauf, noch nicht angekommen zu sein. Noch nicht seine wirkliche Bestimmung zu leben und sich noch im Provisorischen aufzuhalten, eben ausserhalb seiner Nitya-sambandha (seiner ewigen Beziehung zu Radha Krishna). Es geht um unbedingtes und restloses Vertrauen zu Gott, trotz Unfähigkeit, das Rätsel des Leids und des Bösen enträtseln zu können. Man kann die genaue Ursache des Leides nicht immer "erklären", aber bestehen. Nachdem Hiob durch so viel Leid hindurch gegangen ist, sagt er am Ende des Buches in Hiob (42,5): "Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen." Ist Gott leiderzeugend? Hiob legt den Finger auf dem Mund und schweigt vor Staunen in Anerkennung des riesigen Ausmasses seines Nichtwissens. Er verliert die Grundlage, sich zu beschweren. Wie will ich einen langen Roman verstehen, wenn ich nur eine einzige herausgerissene Seite daraus gelesen habe? Aus der Perspektive der Reinkarnationen zerfällt die momentane Wertung. Wenn ich die eigene Lebensgeschichte nicht nur als den kleinen Ausschnitt dieses einen Lebens, diese Buchseite, betrachte, sondern aus vielen tausenden von Weg-Etappen, dann sehe ich auch mich in einem anderen Licht und vieles wird klarer aufgrund des Erkennens eines grösseren Kontextes. Die Anklage Gottes aufgrund des Leidens in der Welt beruht auf einem Lebensverständnis, welches sich stark an der äusseren Dualität orientiert. Dass nämlich das äusserlich Angenehme erstrebenswerter sei als das Unangenehme. Gott entlässt die Welt ihrer Autonomie... um des menschlichen Freiseinkönnens. Das heisst, er greift nicht ein in den Geschichtsverlauf des Weltgeschehens. Seine Intervention ist die ganz feine Schenkung des ersten Funkens von Sraddha - unverrückbarem Vertrauen, aus welchem heraus sich dann die ganze spirituelle Praxis ergibt. Reine Bhakti ist die bedingungslose Zuflucht in Gott. Da sie der Liebe entspringt ist sie natürlicherweise freudvoll in sich selbst und verlangt gar nicht noch zusätzliche Ergebnisse - auch nicht die Linderung von Leid oder die Befreiung von dem Dasein in der Welt. Wer auf Zeichen im Aussen wartet, tut dies vergeblich. Aber sein Wirken wird im Bereitstellen und Begleiten auf dem inneren Weg klar ersichtlich. Wenn Gott jedes Mal in den Lauf der Naturgewalten eingreifen würde, dann hätten wir eine perfekte Welt, wo alles am Schnürchen laufen würde. Wie ein Marionettenspieler hätte Gott alle Fäden in der Hand. Wo bliebe da noch Raum für Selbstständigkeit und Freiheit? Ebenso muss gefragt werden, was denn der Ausdruck "Herr der Schöpfung" eigentlich meint. Das heisst nicht, dass er alles "regiert", indem er ständig eingreift und wie ein Diktator alles bestimmt. In der Welt geht es mit rechten Dingen zu. Seine Intervention ist nicht auf der praktischen Ebene. Vielleicht greift Gott nicht so in unser Leben ein, wie wir es erhoffen - aber was würde dann passieren? Wenn Gott wie ein Weihnachtsmann auf unsere Gebete hören und uns alles geben würde, was wir wollten - wären wir dann der Erfüllung nur einen Schritt näher? Wenn Gott die Begehren des Lebewesens zufrieden stellen würde, dann wäre dies ja der von Gott unterstütze Eigenwille. Dies wäre die genaue Umkehr des tiefsten Gebetes, dass SEIN Wille geschehen dürfe. Es wäre zu vereinfacht zu denken, dass Gott unseren menschlichen Ansprüchen gerecht werden sollte. Wenn Gott dies tun würde, wäre die Motivation der Gotteszuwendung ein erfolgreicheres Leben im Aussen. Wieso will man von Gott Rechenschaft fordern, wenn Dinge komplett der eigenen Vorstellungswelt entgegen verlaufen? Das Loslassen der naiven Idee, dass Gott von aussen her einzugreifen hat in den Kosmos und da Wunder zu bewirken hätte, macht einen sensibel für die feinen Aufzeichnungen seines Seins im Innern. Das ist der Ort der Gottesantwort. Gott hat vorgesehen, dass die Schöpfung erst dann wirklich leidensfrei wird, wenn Schöpfung und Schöpfer sich verbinden, so dass die Kraft des Schöpfers durch das Geschöpf, den Menschen, in die Schöpfung hinein fliesst und er dadurch die Schöpfung für ihn durchlässig werden lässt. Die Sonne erzeugt keine Schatten. Sondern die Abtrennung und Zurückhaltung des Sonnenlichtes vor bestimmten Orten, erzeugt die Schatten. Gott erschafft nie Leiden und selbst der Erwachungsweg zu ihm hin kann leidensfrei verlaufen. Es ist die über unzählige Leben hinweg angewöhnte Selbst-Isolation vor ihm, die eigene Gottes-Entfremdung, die den Schatten erzeugte. Gott wollte und braucht die gesamte materielle Welt nicht. Aus seiner Perspektive wäre sie effektiv nicht notwendig. Doch gibt es keine Notwendigkeit für irgendeinen Menschen auf dieser Erde, aus dem Traum des Vergessen-Dürfens aufzuwachen, solange er nicht selbst in seinem Inneren diese absolute Notwendigkeit und Dringlichkeit annimmt und erkennt.

22. November 2012

Advaita

Sri Krishna vereint Einheit mit Vielfalt In unserer Zeit ist Advaita, die Lehre zur populären Weltanschauung erwachsen. Man kann dadurch auch die peinlich gewordene Frage nach Gott umgehen. Was bedeutet denn Advaita wirklich? Befreite Seelen, welche aus dem Entwicklungskreislauf (samsara) herausgehen, gehen nicht in Gott ein im Sinne einer Verschmelzung und überwinden dennoch alle Trennung zu Ihm, ohne jedoch ihre individuelle Identität aufzugeben. Diesen Zustand nennt man Liebe – der Austausch zwischen zwei ewig seienden Wesenheiten, Gott und der Seele. In der Liebe steht die individuelle Beziehung in einer schöpferischen Spannung mit dem ewigen Miteinanderverwobensein. 2 Arten des Einsseins: -vastu ekatva (Einheit in der Substanz, Einheit im Sein) völlige und endgültige und irreversible Aufhebung der Individualität, Verschmelzung mit dem Brahman. Das ist die Erfahrung von Friede. -dharma ekatva (Einheit in der Bestimmung, Einheit in der Ausrichtung) Wenn zwei ewige Wesen (Gott und die Seele) ewiglich konfliktlos in einem Austausch stehen. Es besteht aufgrund der Einheit keinerlei Spannung. Das ist die Erfahrung von Liebe. Wir leben in einer Welt der Konflikte und auch in spirituell-philosophischen Kreisen definiert man sich oft durch Abgrenzung. Ein schwacher Glaube braucht einen Feind. Die anfolgenden Gedanken mögen vielleicht zur Versöhnung wiedersprüchlicher Verständnissen beitragen. Wenn man glaubt, man müsse eine Wahl treffen zwischen Monismus (advaita) und Theismus (dvaita), dann befindet man sich bereits in der Dualität, welche nicht alles zu umfassen vermag. Die spirituelle Wirklichkeit kann beide Aspekte miteinander auf eine Weise verbinden, dass es als Hinweis auf eine ganz andere Wirklichkeit verstanden werden kann. In der Vielfalt dieser materiellen Welt gibt es nicht Koexistenz zwischen sich widersprechenden Gegensätzlichkeiten. Sie lösen sich auf. Sie hält diese Komplexität parallel existierender Wirklichkeiten nicht aus. Advaita bedeutet nicht exakt Monismus, aber „nicht-dual“. In dieser Welt erleben wir Einheit und Dualität. Advaita bedeutet: weder noch. Auf einer höheren Wirklichkeit fallen die Gegensätze in einer umfassenden Einheit neu zusammen (coincidentia oppositorum). Koexistenz, die sich nicht gegenseitig auflöst, sondern bereichert. Das ist die harmonisierende Qualität der absoluten Realität. Dann braucht man nicht irgendwelche Aussagen der heiligen Schriften zu betonen und andere zu bekämpfen nur um seine Weltanschauung zu rechtfertigen, sondern erkennt, dass in der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Aussagen auf eine höhere Harmonie hingewiesen wird. Diese Ganzheit ist für den Verstand nicht zu fassen. Wenn man das Heilige mit den eigenen Vorstellungen überlagert, resultiert nicht die Wahrheit daraus, sondern die eigene Vorstellung der Wahrheit. Die eigene relative Erfahrung des Absoluten darf nicht verabsolutiert werden, denn das wäre die Stagnation der inneren Entwicklung. Die Advaita-Erfahrung ist Vielheit ohne Konflikt, Einheit in der Zweiheit – das ist Liebe. Die Absolute Wahrheit ist advaya (SB 1.2.11), nicht dual, nicht zweihaft. Das bedeutet, dass es in ihr keine Dualität gibt, dass sie nur eins ist. Unio und comunio – Einheit und Beziehung zur gleichen Zeit gegenwärtig. Eine Einheit, die auch die Vielheit in sich integrieren kann, in der die Gegensätzlichkeiten sich ergänzen. Die andauernden Gegensätze in den Heiligen Texten sollen dem Studenten begreiflich machen, in unablässigem Bemühen vom blossen Schatten des Wortes zu dem wirklichen WORTE hinzufinden, in dem Wort und Idee und die Sache selbst (die durch das Wort ausgedrückt wird) eins sind. Das Aufleuchten dieser Erkenntnis im eigenen Innerern wird Spuhrti genannt (das Aufbrechen des Sinnes des Wortes). Die vorher einzig wahrnehmbare Schattenhülle des Wortes zieht sich zurück und das ewig göttliche Wort macht sich aus eigener Initiative in seinem wahren Wesen erkennbar. Es ist das Wort, das eine der Seinsweisen von Gott selbst ist (sabda-brahma), alles umfassend, erfüllend und umhüllend, der letzte Grund von allem. -Der von Zeit und Raum Unbegrenzte (Vibhu) -Er ist der Gestalthafte (murtiman) -Er ist unbefleckt durch Wirken (niralepa) -Er ist voller Tätigkeit (kriyamana) -Er ist von allen zu verehren (sarvaradhya) -Er ist ein einfacher Kuhirte in Vrindavan (Nandanandana) -Er steht jenseits von allem Denken (cintatita) - Er ist mit dem Auge der Bhakti wahrnehmbar - Er ist allwissend (sarvajna) - Er ist von Liebe überwältigt (mughdata) -Er ist allen gleichgesinnt (hat keinen Freund -Seine Geweihten sind ihm lieb. und auch keinen Feind (BG 9.29) Sie sind in Ihm und Er ist in Ihnen. (BG 9.29) -Er ist unbeweglich (anejat – Isopanisad 4) -Er ist schneller als der Geist (Isopanisad 4) -Er hat keine Hände und keine Füsse - Er hat eine unbegrenzte Anzahl (Svetasvatara Upanishad 3.19) Hände und Füsse (BG 13.14, Rg 10.90.1) -Er ist von allem ausserordentlich weit entfernt -Er ist allem ausserordentlich nahe (Isopanishad 5) (Isopanishad 5) -Er hat keinen Namen -Er hat eine unendliche Anzahl Namen Scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich und verweist auf eine umfassendere Wirklichkeit hin. Die Höchste Absolute Wahrheit hat transzendentale Form, Eigenschaften und Charakter. Da sie nichts zu tun braucht – da alles nur von seiner iccha Sakti, seiner Wunsch-Kraft geschieht – spielt sie. Dieses dramatische Liebesspiel des letztendlichen Bewusstseins nennt man lila. Die heiligen Schriften beschreiben dies, um uns die Faszination der Wirklichkeit zu vermitteln. Krishna hat Acintya Sakti. In dieser Welt schliessen sich Gegensätzlichkeiten aus. Man kann nicht zur gleichen Zeit der Grösste und der Kleinste sein. Aber in der Transzendenz ist es aufgrund seiner Acintya Sakti möglich, Gegensätze zu vereinen. Er ist zur gleichen Zeit alldurchdringende Energie wie auch Individualität. Krishna, die Absolute Wahrheit, spielt in Vrindavan wie ein Kind. Seine Freunde beklagen sich bei Yasoda, da Krishna Erde gegessen habe. Sie kommt und bezichtigt ihn. Er, der die Ursache von allem ist, der selbst von der Angst in personifizierter Form gefürchtet wird, ist nun wirklich ängstlich vor seiner Mutter. Mutter Yasoda will Sri Krishna von der Erde befreien und bittet ihn, seinen Mund zu öffnen – und erblickt in ihm Millionen von Universen, die gesamte Schöpfung. Das ist die Bedeutung von Advaita, „nicht dual“. Diese Höchste Wahrheit ist ein individuelles Wesen und in ihm existiert keine Dualität. Es gibt in ihm keinen Unterschied zwischen innen und aussen. Von ihm gehen alle Universen aus und zur gleichen Zeit sind sie auch in ihm.(Bhagavad gita 9.4) Yasoda aber ist geblendet von ihrer elterlichen Liebe (yoga maya) und denkt, Krishna sei unter dem Einfluss von einem Geist und ruft Brahmanas, um diesen Geist auszutreiben und um Krishna zu beschützen. Sie denkt, dass aufgrund dieses Einflusses ihr Kind so unruhig sei und deshalb von Haus zu Haus schleiche und Butter stehle. Krishna hat überall in Vrindavan Butter gestohlen…. Seine Mutter hat ihn einmal dabei erwischt. Krishna hat sein wunderbar schwarzes Gesicht noch voller Butter und ganz ängstlich sagt er: „O maiya, ich habe kein Butter gestohlen.“ Äusserlich sieht es so aus wie eine ganz gewöhnliche Alltagsszene in einem indischen Dorf, eine Erzählung, die da seit Generationen erzählt wird. Aber da Krishna die Höchste Wahrheit ist, und auf Erden spielt mit seinen ewig Beigesellten, ist darin die tiefste Weisheit des Vedanta verborgen. Ist es Lüge, wenn Krishna sagt, er hätte kein Butter gestohlen? Alles kommt aus der Absoluten Wahrheit aus und ihr gehört alles. Man kann nichts stehlen, was einem selbst gehört. Krishna ist effektiv der alleinige Besitzer von allem (Bhagavad Gita 5.29) Das ist Advaita, Nicht-Dualität- coincidentia oppositorum… Bei ihm fallen die Widersprüche zusammen. Die Lüge wird Wahrheit. Krishna spielt mit unzähligen Kuhhirten in den Wäldern Vrindavans. Er spielt auf der Flöte und sein Wesen ist nur Lieblichkeit, Romantik und Schönheit. Alle Eigenschaften, die einen in der zeitweiligen Welt anziehen haben ihren Ursprung in der Wahrheit. Mit all seinen Kuhhirtenfreunden sitzt er nun im Wald von Vrindavan. Sie lachen miteinander und essen. Jeder von den Millionen von Freunden denkt, Sri Krishna sitze direkt vor ihm und er spreche direkt mit ihm und teile mit ihm die Nahrung. Ein Freund sagt zu Sri Krishna: „Bitte esse auch von diesem Samosa, welches meine Mutter wunderbar zubereitet hat“, und steckt es Sri Krishna in den Mund. Alle von den Kuhhirten im Kreis haben diese Erfahrung, direkt vor Sri Krishna zu sitzen, und von ihm angesprochen zu werden. Das ist die Bedeutung von Advaita. Die Wahrheit ist unlimitiert und muss deshalb auch allgegenwärtig, alldurchdringend sein. Aber in seiner Unbegrenztheit ist sie auch individuell. Wenn sie nur überall wäre und nicht auch gleichzeitig lokalisiert, dann würde ihr einen Aspekt fehlen. Das Unbegrenzte muss also gleichzeitig beide Aspekte umfassen, sonst wäre es limitiert. Die Erfahrung von Form in der physischen Welt ist immer nur an einem Ort, begrenzt und limitiert. Aber in der Transzendenz koexistieren gegensätzliche Eigenschaften. Sri Krishna sitzt mit unzähligen Freunden zusammen und jeder erfährt, dass er direkt neben ihm sitzt und eine intime Beziehung mit ihm hat. Das ist Advaita. Es gibt bei ihm nicht ein vorne oder hinten. In den theologischen Systemen der Welt findet man immer die soziale Struktur des Patriarchates in das Gottesbild hinein gewoben („Gott ist der „Vater“). Es existiert so viel männliche Dominanz im Gebiet von Theologie. Aber warum sollte Gott männlich sein? Das Bhagavatam erklärt, dass die absolute Wahrheit auch weiblich ist. Mann-Frau-Aspekte sind ein fundamentales Prinzip, das fast die gesamte materielle Existenz durchdringt. Da diese Welt eine Spiegelung der Wirklichkeit ist, muss dieser Aspekt auch im ewigen transzendenten Ursprung seine Grundlage als Grundentwurf, als Archetyp, vorhanden sein. Die Veden offenbaren Radha und Krishna als die eine Absolute Wahrheit, die sich ewig in zwei geteilt haben und den Austausch der Liebe selber erfahren. Diese Einheit wird Prema-bhakti genannt. Der Schimmer dieser Liebe-Erfahrung der nicht-dualen Welt ist auch hier erfahrbar als Bhakti Yoga, in der liebenden Hingabe zu Gott. Wenn Krishna Vrindavan verlässt und Radhika in den Wäldern Vrindavans weinend zurückbleibt, dann erinnert sie sich an das wunderbare Lächeln Krishnas, wie er singt, wie er so bezaubernd auf der Flöte spielt und alle bewegenden und nicht bewegenden Lebewesen damit betört – Vögel und Bäume sind absorbiert in Trance. In den Trennungsgefühlen absorbiert in die Erinnerung an Krishna spürt Radha plötzlich ganz sanfte Hände, die ihre Augen bedeckten. „Ist es Lalita? Oder Vishakha?“ „Nein, ich bin es!“ Und Sri Krishna steht direkt vor ihr. Radhika kann es noch nicht glauben und Krishna wischt ganz sanft mit seinem eigenen Pitambara (Krishnas gelben Dhoti) ihre Tränen ab. „Wieso weinst du? Ich werde dich nie verlassen.“ Im nächsten Moment verschwindet dieses Sphurti (Vision) und Radhika fällt im erneuten Trennungsschmerz bewusstlos zu Boden. In dieser Welt sind wir mit einer Person oder getrennt von ihr. Trennung (vipralambha) und Begegnung (sambhoga) sind nie gleichzeitig. Aber in der transzendentalen Sphäre gibt es keine Dualität darin. So gibt es Begegnung in Trennung (prema-vivarta) und auch Trennung in der Begegnung (prema vaicittya). Das ist die Erfahrung von Advaita, Nicht-Dualität. In dieser Welt ist Klang und Form voneinander verschieden. Durch Klang ist die Form nicht direkt erfahrbar. Aber Absoluter Klang, der Heilige Name Gottes, vermag alle Wahrnehmung zu vermitteln. Berührung, Geruch, Geschmack, Begegnung und Beziehung. Aus diesem Grund ist die Erfahrung der transzendentalen Wirklichkeit zugänglich in dieser Welt durch das Medium von spirituellem Klang. Durch Absorption in den Heiligen Namen erweitert sich dieser in die Form der Absoluten Wahrheit, in den Geruch des Absoluten, in das Flötenspiel des Höchsten. All das ist erfahrbar durch Nicht-dualen Klang – der Heilige Name Gottes. Das ist die Erfahrung von Advaita.

10. November 2012

Sport.... Eine Infragestellung moderner Religion

Was wir heute unter sportlicher Betätigung bezeichnen, kann grundlegend in zwei Kategorien unterteilt werden. Das "rekreative Prinzip" beinhaltet den Bereich des zweckfreien, ungebundenen Spiels; es verwirklicht sich in der Freiheit vom Leistungszwang, bestimmt sich in der immer beschränkten zeitlichen Aufwendung; es versucht, Freude und Vergnügen zu gewinnen; es huldigt dem Überflüssigen; es gibt spontanen, schöpferischen Einfällen nach; es befreit sich von aufgezwungenen Regeln und Übungsweisen; es tendiert auf Erholung und Ausgleich und gewährt die Rückgewinnung der menschlichen Freiheit von belastenden Daseinsbedingungen. Das ist schon fast eine Annäherung an lila. Dem wettkampfmässig betriebenen Sport (Breiten- und Spitzensport) liegt dagegen ein anderes "Prinzip" zugrunde, und zwar das "sportliche". Es beinhaltet das auf Rekord gerichtete Leistungstreben; es verwirklicht sich im Leistungsvergleich das Wettkampfes; es versucht, durch Rationalisierungsmassnahmen vielfacher Art die Effektivität der aufgewendeten Trainingszeit zu erhöhen; es ersinnt immer neue Methoden der Ökonomisierung von technischen Fertigkeiten oder taktischen Verhaltensformen; es drängt auf Automation von Bewegungsabläufen und unterscheidet sich nicht grundlegend von wirtschaftlichem Denken. Dieser Art von medial vermitteltem Sport wird täglich von Milliarden Menschen Aufmerksamkeit geschenkt. Die folgenden Gedanken richten sich nicht gegen die natürliche Neigung nach Bewegung und auch körperlicher Ertüchtigung, sondern möchten die Verkultisierung dessen in Frage stellen. Dort, wo Themenbereiche, die einem lieb geworden sind, in Zweifel gesetzt werden, wohnt eine ganz interessante Entscheidungsfreiheit inne…. Im Olympiajahr 1932 brachte das Berliner Magazin "Der Querschnitt" ein Heft mit dem Thema "Fug und Unfug des Sports" heraus. Über die erste Seite zog sich eine Balkenüberschrift "Weltreligion des 20. Jahrhunderts". Der fiktive Rückblick aus einem Abstand von zehntausend Jahren beginnt mit der Aussage: Nicht das Christentum sei das beherrschende Religionssystem des euroamerikanischen Kulturkreises gewesen, sondern eine neue "Weltreligion" mit Namen "Sport". Diese neue religiöse Bewegung habe im 20. Jahrhundert die alte christliche Religion fast völlig verdrängt. Das Symbol des Kreuzes sei ersetzt worden durch das des Balls, dessen Kugelgestalt - als "Sinnbild des im Endlichen beschlossenen Unendlichen" - als höchste Form des Religiösen angesehen worden wäre. Die Kugelgestalt des Balles, des hauptsächlichsten Kultgegenstands, zeige den Diesseits-Charakter der "Sportreligion". Am Ende des Artikels wird die staunenerregende Popularität mancher "Priester und Priesterorden der Sportreligion" erwähnt, um die sich häufig hunderttausend "Gläubige" scharen. Das Wort „Sport“ stammt aus dem lateinischen „deportare“ - das heisst: zerstreuen. „De se porter“ im Französischen und im englischen „to disport“ heisst, „sich vergnügen und herumtollen“. Die ganze Idee des Sportes ist mit der Industrialisierung entstanden, als Menschen komplett losgerissen wurden aus einem natürlichen (bäuerlichen) Umfeld, um in Fabriken in einer entstellten Atmosphäre zu arbeiten. Solchen Menschen musste man eine Kompensation anbieten, damit die Rebellionskraft sich nicht gegen die Arbeitsgeber richtet. Dazu diente Sport. Karl Marx bezeichnete den Proletarier-Sport als Disziplinierungsmassnahme der Bourgeoisie. Es war das Ablenkungsmanöver der Herrschenden, die Aufmerksamkeit auf das Banale zu lenken und darin Identität zu erlangen. Das hilft, die Unerträglichkeit des Alltags besser zu tolerieren. Marx nennt dann im Gegenzug die luxuriösen Sport-Clubs der Reichen „Herrschaftssymbole“. Da die Idee des Sports, wie wir ihn heute kennen in der Zeit des Frühkapitalismus entstanden ist, sind darin auch noch dieselben archaischen Strukturen gespiegelt. Industrialisierung und Sportwesen haben beide in England ihren Anfang gefunden. Der Sport orientierte sich mit seinem Leistungs, - Rekord, - und Konkurrenzprinzip an den gleichen Werten wie die Arbeitswelt. Zudem gab es in der Industrie wie auch im Sport eine Entwicklung zur Spezialisierung und Rationalisierung hin. Der Athlet ist für Pierre Coubertin, dem Gründer der olympischen Spiele der Gegenwart "eine Art Priester und Diener der Religion der Muskelkraft“. Die Maxime des Sportes verkündete er als "citius, altius, fortius - schneller, höher, stärker". In vielerlei Hinsicht haben wir frühkapitalistische Strukturen überwunden, aber im Sport sind sie noch hängen geblieben. Da gilt noch immer das Aggressionsprinzip und die Idee zu gewinnen. Zudem huldigt man in sportlichen Arenen noch Werten wie nationalistischen Gefühlen, die man sonst als fragwürdig bezeichnet. Heutzutage ist der Sport zu einer Ersatzreligion geworden. Der philosophische Begriff dafür heisst „Kryptoreligiosität“. Das religiöse Erleben, welches sich nicht mehr auf Gott bezieht und sich in die Unendlichkeit seiner Schöpfung verstreut, ist Kryptoreligiosität. Religiöse Verhaltensweisen Sehnsüchte werden in den profanen Raum übertragen. Es ist anonyme Religiosität – ein Verhalten, das vom Wesen her weltlich ist, aber die darin wohnende Sehnsucht eine tief religiöse darstellt. Auch die totalitären Ideologien des vergangenen Jahrhunderts – Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus und natürlich auch institutionalisierte Religion – haben sich in diesem Sinne als verdrehte Religionen erwiesen. Ihre Weltbilder beanspruchen, das wahre Wesen von Natur und Geschichte erkannt zu haben. Sie geben vor, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihnen die Geborgenheit in abgesicherten Strukturen. Sie kalkulieren mit der Angst vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehen, Ungewissheit. Sie wollen den Menschen von seiner schwierigen Freiheit, ein Einzelner zu sein, befreien und in ein Kollektiv eingliedern: Dort darf er sich zugehörig fühlen – im verfeindenden Gegensatz zu denen, die nicht dazugehören. Dieser Gegensatz ist von elementarer Bedeutung: Das Gefühl dieser Art Zugehörigkeit ist, genau gesehen, nichts anderes als die Abgrenzung von den Feinden und dem Fremden. Die totalitären Ideologien als Religionsersatz wollen den Menschen von der Freiheit, die immer auch das Gefühl des Fremdseins und der Einsamkeit einschliesst, befreien, da sie einen nicht die Erfahrung effektiver Aufgehobenheit vermitteln können. Kryptoreligiosität vermag letztendlich die zutiefst empfundene Sinnleere nicht zu ersetzen. Der Mangel bleibt bestehen, so intensiv man ihn auch zu überspielen sucht. Die post-kirchliche Gesellschaft verlegt Ekstase und Jubel ins Inhaltslose hinein. Sport wurde zum Surrogat (Ersatz) des Göttlichen. An die Stelle des Transzendenten wird nun eine Ode an den Staat gesungen (Nationalhymnen) und der siegreiche Sportler erhöht sein Vaterland und Rasse. In diesem Sinne kann man Sport auch als Paganismus, als heidnischer Ausdruck verstehen. Carl Diem schrieb 1936 zu seiner Olympia-Inszenierung im Nazi-Deutschland: "Über dem modernen Geschehen der Olympischen Spiele liegt der Zauberkreis des göttlich-Frommen. ... Was die Feier einleitet: Glockenklang - Fanfaren - festlicher Umzug - Chorgesang - Ansprache - Eid - Fahnen - Tauben - Lichtsymbol, das alles bedeutet Weihung, einem kirchlichen Fest gleichgeordnet, und über allem liegt die tiefe Ergriffenheit – mit einer religiösen Feierstunde durchaus vergleichbar." Man verehrte nun nicht mehr Zeus, aber huldigt dem Staat. Diem stand dann im März 1945 vor Teenagern auf dem Reichssportfeld in Berlin, um sie mit einer "flammenden Rede, in der so viel von Sparta und sportlicher Opferbereitschaft vorkam, zum siegreichen Endkampf gegen die deutschen Feinde" aufzufordern. Im Sport haben sich nicht nur die fraglichen Werte seiner frühkapitalistischen Entstehungsgeschichte noch immer aufrechterhalten, sondern er hat in einer Zeit, in der der Grossteil der Menschen den Kontakt zu einer tragenden Spiritualität verloren haben, den Status der Ersatzreligion eingenommen. Es ist eine ursprünglich religiöse Sehnsucht, die sich im Sport profan (pro – vor, fanum – dem Tempel) ausdrückt. Dabei werden aber im Sport auch fragwürdige Grundwerte zelebriert: Das Denken, dass Aggression gegen andere und Härte gegen sich selbst zum Sieg führe, dass Erfolg glücklich mache dass es erstrebenswert sei, an der Spitze zu sein. „Wir haben gewonnen“ – gerade im Fussball, dem populärsten Massensport der Neuzeit, lebt ein grosses Identifikationspotenzial. Sportanlässe sind also nicht einfach nur Zerstreuungs-Momente und Ablenkung, sondern eine symbolisch dramaturgische Darstellung des Lebens, in dem Körperlichkeit, Jugendlichkeit, Einsatzbereitschaft, Kampf, Ethnozentrismus (Patriotismus) und auch Nationalismus (nationales Trancegefühl) gedankenlos gelebt und ausgedrückt werden. Die Schwachen, Alten, und Verlierer haben in diesem Denken nur noch Randpositionen inne. Wenn man im Wikipedia irgendeine Stadt eingibt (zum Beispiel Leipzig), findet man unter „Persönlichkeiten“ eine Liste der bekannten Söhne und Töchter der Stadt. Es fällt einfach auf, dass die Menschen, die vor hundert Jahren einen Bekanntheitsgrad erlangten – das heisst, Dinge ausübten, die in den Augen der Masse erstrebenswert waren – Denker, Philosophen, Musiker oder Theologen waren. Betrachtet man die Liste aus der Neuzeit, sieht man, dass die Idole von heute zu über 80% nur noch Sportler sind. Die Sehnsucht, die im Sport (und auch in der Popkultur)Ausdruck findet, ist eine säkularisierte Religion, die das Leben von vielen bestimmt und deren tägliches Erleben und Handeln prägt, sehr fragwürdige Werte vermittelt und zudem vernebelt, dass die Sehnsucht des Menschen auf etwas Absolutes und Unvergängliches hin zielt. Religion verweist den Menschen eigentlich auf Letztendliches. Das Substitut „Sport“ allerdings stärkt innerweltliche Werte und Identifikation. Massenhaft besuchen Menschen medial aufbereitete Sportveranstaltungen. Ein erster Verdacht, dass es sich bei Sportstadien um so etwas wie „heilige Räume“ handelt, ergibt sich aus den liturgischen Abläufen von Sportanlässen. Alles beginnt mit einer oft stundenlangen Wallfahrt, auf der schon Bekenntnisse gesungen und liturgische Gewänder getragen werden (Schals, Mützen, Trikots, Fahnen). Es ist eine Prozession. Während der Veranstaltung hat man das Gefühl, am Nabel der Welt zu sein, dort, wo nun wirklich das Wesentliche geschieht. Man hat nun mit allen anderen Zuschauern einen gemeinsamen Mittelpunkt, auf den man sich ausrichtet. Die Symbole und der Ritus schenken Verbundenheitsgefühl auf der aller äussersten Ebene. Man ist gegliedert in homogenen Zuschauergruppen (Fan-Blocks) und dies erhöht das Mass einer emotionalen Beteiligung. Gefühle dürfen jetzt entfesselt werden. Man kann schreien und unterstützen – verehren. Der Besucher von sportlichen Grossveranstaltungen erlebt die Leidenschaft des Spektakels und er kann wieder einmal Mitgerissen werden. In den Stadien gibt es responsorische Rufe, die durch den Liturgen, dem Stadions-Sprecher, angeleitet werden und chormässig wird gemeinsam gesungen. Es hat den Anschein eines Bekenntnisses, was der Fan da tut. Dass der Text sinnentleert ist, stört anscheinend nicht mehr. Das Erleben des Rausches, in der Gemeinschaft zu einem grösseren Ganzen dazuzugehören, gilt ihnen mehr als die stille Freude, sinnvoll zu leben. Im den Kneipen wird das Sieges-Bier herumgereicht wie der Kelch beim Abendmahl. Die Stadion-Gottesdienste werden von Radio- und Fernsehpredigern in die Wohnzimmer der breiten Masse übertragen. Ein echter Fan (von „fanum“ – heilig) kennt die Spielzeiten und stellt sich darauf ein. Dies strukturiert sein Jahr und erfüllt das, was der heilige Kirchkalender oder der Vaishnava-Kalender dem homo-religiosus schenkte. Das Wort „Olympiade“ bezeichnet den Zeitraum von vier Jahren hin zu den nächsten Spielen, einem nächsten Höhepunkt im Leben. Der Fan beschäftigt sich mit seinen Idolen und mit den Biografien der grossen Spieler. Es gibt Wundergeschichten, Sündenböcke und Heiligenlegenden. Die Liturgie und die Mythen machen aus den Zuschauern eine Gemeinschaft – die Fan-Gemeinde. Diese identifiziert sich mit ihren Stars und hält die Siege und Niederlagen von ihnen als ihre eigenen: „Wir haben gewonnen / verloren“. Das Publikum ermöglicht erst die sportlichen Grossveranstaltungen. Hier geht es nicht nur um das Moment der "Identifikation" mit den sportlichen Helden. Unübersehbar ist das "Aussersichsein", das Aufgehen in der Masse der Gleichen. Unbestreitbar macht sich allerdings der heutige Sport eine Tendenz in der modernen Gesellschaft zunutze: Es sind die diffusen Wünsche und Sehnsüchte der Menschen nach einem Sinn des Lebens, nach Identifikation mit "Helden", ja nach "Lichtgestalten" mit Quasi-Erlösungsfunktionen. Im Sport erlebt man, dass auch unbedeutende Personen unabhängig von Geburt und Stand berühmt und zu Stars werden können. Genau dies ist ein ursprünglich religiöser Wert – der Mensch ist wertvoll unabhängig seines sozialen Status. Die Liebe Gottes zielt auf jeden gleich und darin gibt es keine Klasse von Privilegierten mehr. Im Sport kennt man die Spannung, dass trotz bester Vorbereitung und finanziellem Vermögen nichts vollständig berechenbar und vorhersagbar ist. Die Faszination für Überraschung, des Unvorhersehbaren, dass der Mensch die Umstände nicht zu kontrollieren vermag, ist effektiv eine religiöse Grundhaltung. Religion dient der Kontingenzbewältigung. Kontingenz bezeichnet die Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Jeder Mensch macht die Erfahrung des Ungenügens, des Mangels, zu dem nicht nur Erfahrung von Leid, Krankheit, Alter, Schuld, Versagen und Tod gehören, sondern ein Wahrnehmen existenzieller Leere. Religion lehrt also ein erfolgreiches Umgehen mit diesem existenziellen Sinnvakuum durch Vermittlung einer Perspektive, die in allem innerweltlichen Erleben drin eine beständige Hoffnung vermittelt. Kontingenz bedeutet, dass Menschen die Erfahrung machen, dass vieles in ihrem Leben nicht verfügbar ist, dass sie bestimmte Ereignisse und Erfahrungen nicht beeinflussen können. Kontingenzbewältigung meint dann, wie man mit diesem Gefühl des "Ausgeliefertseins" umgeht. Religion schenkt eine tiefste Gelassenheit in allem, eine Substanz in allem, die einem selbst die Erfahrung des Unvermeidlichen an der Oberfläche als peripher erscheinen lässt. Das bedeutet, Religion ist realitätstauglich. Genau diese Substanz vermag Sport nicht zu vermitteln und verpasst ein transzendentes "Heilsziel". Es ist ein Sich-Arrangieren mit dem Sinndefizit. Im "Drama des Wettkampfspiels" steht die symbolisierte Existenz auf dem Spiel: Es geht um "Sieg oder Niederlage, um Gewinn oder Verlust, um Glück und Unglück, um Erfolg oder Versagen. Es symbolisiert das eigentliche Leben und bietet eine verdichtete Spielsituation, die vom Publikum miterlebt wird und über einen Verweis-Charakter hinsichtlich menschlicher Ängste und Hoffnungen verfügt. Sport ist religions-analoges Verhalten, dem jedoch aller Inhalt und die wesenshafte Tiefe entzogen wurde. Das Verhalten der Sportfans in der Verehrung ihrer Heroen des Feldes und die Verwerfung der 'Versager'; die kollektiven Erfahrungen der Angst vor dem Verlieren, das Bangen bis zum Schlusspfiff und schliesslich die ekstatischen Feiern der Erlösung aus dem Bannkreis der Ungewissheit durch den Sieg – das sind sicherlich religiöse Elemente, welche sogar in einer religiösen Sprache ausgedrückt werden. Doch der Inhalt ist banal und die tiefe Wirklichkeitsebene einer Transzendenz-Zuwendung wurde evakuiert. Deshalb ist Sport nur Ausdruck einer Ersatz-Religiosität. Der Religion und dem Sport liegt die Sehnsucht nach Entgrenzung, Durchbrechung des Alltags und unbändige Lebens-Lust zu Grunde. Dem entsakralisierten Menschen fehlt das Grundgefühl des Aufgehobenseins und er fühlt sich letztlich einsam in einem riesigen leeren Raum, einer amorphen Masse, in welcher keine Orientierungspunkte mehr zu finden sind. Die sportliche Erfahrung wird als meditative Übung der Selbstentgrenzung dargestellt: Selbstvergessenheit und Ichlosigkeit, eine distanzlose Einheit und ein Verschmelzen mit der umgebenden Lebenswelt, ektstatische Erfahrungen einer ozeanischen Geborgenheit. Der "Kick", den die Protagonisten des Sports suchen, ist aber lediglich die Steigerung des individuellen "Spass-Motivs". Blosse Spannungsmaximierung und Lustbefriedigung im sportlichen Tun sowie das Auskosten körperbezogener Erlebnisintensitäten, das "Just-for-Fun" - das alles ist nur ein Anspruch der Sinne, aber noch kein "Sinnanspruch". Lebendige Substanz findet man in Sport nicht und wenn man dies dennoch erhofft, klafft einem die Leere nur noch gähnender entgegen. Die religiösen "Gewänder", die religiösen "Symbole" und "Rituale dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim modernen Sport nicht um eine "Religion" im eigentlichen Sinn handelt. Diese Symbole und Rituale sind nur entliehen. Sport und die olympischen Spiele werden nicht mehr zur Ehre einer Gottheit veranstaltet. Religion wird vielmehr instrumentalisiert. Religiöse Gefühle und Energien der Menschen werden auf ein anderes Objekt gelenkt. Im Sport feiert der Mensch sich selbst. Eine Religion ohne Gott führt zur Vergötterung der Menschen und ihrer Leistung. Der klassische Ausdruck dafür ist die "Vergötzung". Sport propagiert die "Gesundheit ist das höchste Gut“. Überhöhung und Huldigung der Körperlichkeit und dessen vermeintliche Unversehrtheit ist das Symptom einer Gesellschaft, die ihr Heil vorwiegend im Diesseits sucht. Es ist die "Verweltlichung des Paradieses" und seine Verlegung in die irdische Existenz hinein. Sport repräsentiert die säkular-profane Lebensform und zelebriert den Körperkult. Obwohl er religiöse Form angenommen hat und im modernen Menschen den Status innehat wie ihn vor einiger Zeit die Religion hatte, vermag er gerade auf die wesentlichen Fragestellungen keine Antworten zu geben. Die Absenz dieses Aspektes erweist deshalb die Sportreligion als Sinn-defizitär. Wenn der säkulare Mensch sein religiöses Bedürfnis nach Gott unterdrückt und nur noch Kompensationen lebt, bleibt ganz tief die innere Unerfülltheit. Wesentliches kann nicht mit Schatten ersetzt werden.